
Super User
»Über das Neue – Junge Szenen in Wien«
Mit Arbeiten von Sasha Auerbakh, Anna-Sophie Berger, Cäcilia Brown, Marc-Alexandre Dumoulin, Melanie Ebenhoch, Johannes Gierlinger, Birke Gorm, Maureen Kaegi, Barbara Kapusta, Angelika Loderer, Nana Mandl, Matthias Noggler, Lukas Posch, Lucia Elena Průša, Rosa Rendl & Lonely Boys, Marina Sula, Philipp Timischl und Edin Zenun; Andreas Harrer, Florian Pfaffenberger und Julian Turner, kuratiert von Bar Du Bois; Steffi Alte, Harald Anderle, Owen Armour, Abdul Sharif Baruwa, Christoph Bruckner, Karoline Dausien, Veronika Eberhart, Søren Engsted, Exo Exo, Manuel Gorkiewicz, Robbin Heyker, Martin Hotter, Paul Housley, Terese Kasalicky, John Kilduff, Axel Koschier, Diana Lambert, Lukás Machalický, Maria Meinild, Jakob Neulinger, Georg Petermichl, Stefan Reiterer, Nora Rekade, Florian Rossmanith, Ellen Schafer, Constanze Schweiger, Ditte Soria und Julian Turner, kuratiert von New Jörg; unbekannter Autor, Abdul Sharif Baruwa, Karoline Dausien, Nicole Haitzinger, Ludwig Kittinger, Anja Manfredi, Thea Moeller und Martin Vesely, kuratiert von Ve.Sch; Florian Boka, Bartosz Dolhun, Kasper Hesselbjerg, Lisa Jäger, Suzie Léger & Katarina Csanyiova, Xenia Lesniewski, Claudia Lomoschitz, Bert Löschner, Line Lyhne, Maitane Midby, Philipp Pess, Tobias Pilz, Julia Riederer und Christian Rothwangl, kuratiert von One Mess Gallery; Bildstein | Glatz, Melanie Ender, Jonas Feferle, Michael Gülzow, Simon Iurino, Eric Kläring, Jürgen Kleft, William Knaack, Axel Koschier, Magdalena Kreinecker, Matthias Krinzinger, Claudia Larcher, Sophia Mairer, Andreas Müller, Lukas Matuschek, Noële Ody, Vika Prokopaviciute, Jörg Reissner, Stefan Reiterer, Niclas Schöler, Leander Schönweger, Lena Sieder-Semlitsch, SOYBOT, Laura Wagner, Angelika Wischermann und Alexander Jackson Wyatt, kuratiert von Pferd; Agnieszka Baginska, Juliane Bischoff, Martin Chramosta, Julia Grillmayr, Bob Schatzi Hausmann, Helmut Heiss, Nima Heschmat, Maruša Höglinger, Andrea Jäger, Lisa Kainz, Sebastian Klingovsky, Kluckyland, Sophia Mairer, Iwona Ornatowska-Semkovicz, Bianca Phos, Martyn Reynolds, Yves-Michel Saß, Anna Schachinger, Vanessa Schmidt, Joakim Martinussen & Agnes Schmidt-Martinussen, Paulina Semkowicz, Lena Sieder-Semlitsch, Sophie Tappeiner und Lukas Thaler, kuratiert von SORT; Ale de la Puente, Luzie Meyer, Nathalie Koger, Nadia Perlov, Laure Prouvost, Niclas Riepshoff, Vladimir Vulević & Nina Zeljković, kuratiert von Gärtnergasse; Nicoleta Auersperg, Gabriele Edlbauer, Maria Grün, Lore Heuermann, Laura Hinrichsmeyer, Nika Kupyrova, Mara Novak, Maša Stanić und Dorothea Trappel, kuratiert von GOMO; Ramaya Tegegne, kuratiert von Kevin Space; Kareem Lotfy, Evelyn Plaschg, Fabio Santacroce und Anne Schmidt, kuratiert von Foundation; Titania Seidl, Lukas Thaler und Laura Yuile, kuratiert von Mauve; Ivan Cheng, Christiane Heidrich, Iku, Evelyn Plaschg & Marielena Stark, Julius Pristauz, Daniel Rajcsanyi & Nils Amadeus Lange (kuratiert von school), kuratiert von Pina; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja
Belvedere 21, Wien
1. März – 2. Juni 2019
Das Neue, das Junge, das Lokale und andere Mythen
Severin Dünser & Luisa Ziaja
Wir haben dieser Ausstellung den Titel „Über das Neue – Junge Szenen in Wien“ gegeben, ganz im Bewusstsein der Problematiken, die Begriffe wie „neu“, „jung“ und „Szene“ mit sich bringen, weil sich in diesen auch die Problematiken des Formats selbst spiegeln, sie quasi auf den Punkt gebracht werden. Wir möchten diesen Aspekten nachgehen und sie mit Überlegungen zum Ausstellungskonzept verknüpfen, um sie schließlich mit konkreten künstlerischen Ansätzen gegenzulesen.
Über das Neue
Das „Neue“ in der Kunst ist ein vielfach aufgeladener Begriff. Paradigmatisch steht es in der Moderne für das Streben der künstlerischen Avantgarden, das jeweils Vorhergehende abzuschütteln, zu überwinden und zukunftsvisionär nicht nur eine neue Kunst, sondern auch einen neuen Menschen, ja eine neue Welt zu entwerfen. Das Neue ist also eng verknüpft mit politischen und gesellschaftlichen Utopien, mit der Hoffnung auf die radikale Veränderung von Machtverhältnissen und menschlichen Existenzbedingungen. Nachdem die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts den Absolutheitsanspruch solcher Modelle diskreditiert hatten, galten fortschrittsorientierte Ideologien als nicht mehr haltbar. Als bewusster Bruch erteilte die Postmoderne dem Innovationsstreben der Moderne, dem Diktat des Neuen und dem utopischen Denken eine Absage.
Pluralität, Polyphonie und Multiperspektivität sind demgegenüber zu Schlüsselbegriffen einer postmodernen Ästhetik geworden, die von der Entgrenzung zwischen Gattungen, Medien, Hoch- und Populärkultur, Kunst und Alltag geprägt ist. Appropriation, Zitat, Wiederholung und Rekontextualisierung stellen dabei zentrale künstlerische Strategien dar, mittels derer Kategorien wie Originalität und Authentizität, aber auch Normen, Werte, strukturelle Produktions- und Rahmenbedingungen hinterfragt werden. Es geht also weniger um Neuentwürfe als vielmehr um eine andere Grundeinstellung, eine andere Perspektivierung, die nicht homogen ist, sondern vieles: dialektisch, mehrfach codiert, zitierend, reflexiv, subjektiv, offen. Künstlerinnen und Künstler wurden, wie es der Kurator Dan Cameron beschrieb, vom historischen Zwang befreit, eine stilistisch innovativ-originale Kunst zu schaffen.[1]
Vor diesem Hintergrund stellte sich der Begriff des Neuen in der Kunst als inadäquat, ja paradoxerweise als überholt dar. Anfang der 1990er-Jahre trat dann der Kulturphilosoph Boris Groys mit seiner Publikation „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“ an, das Neue zu reaktivieren, indem er es vom modernistischen Anspruch auf Norm, Authentizität und Utopie abkoppelte. Nach seinem Verständnis ist jedes Ereignis des Neuen „der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde, weil niemandem dieser Vergleich früher in den Sinn kam“.[2] Innovation sieht er als einen Akt der Grenzüberschreitung zwischen dem Archiv – dem organisierten kulturellen Gedächtnis – und dem profanen Raum. Dabei findet eine Umwertung der Werte statt, „das als wertvoll geltende Wahre oder Feine wird dabei abgewertet und das früher als wertlos angesehene Profane, Fremde, Primitive oder Vulgäre aufgewertet“.[3] Das Neue folgt demnach den Prinzipien der Rekombination, der Kontextverschiebung und der Umwertung, die auf der Ebene der Wahrnehmung Differenz zum bereits Bekannten produzieren. Groys’ Begriff des Neuen schafft keine neue Realität, vielmehr stellt sich das Neue als Spiel des Neuen dar.[4]
Inzwischen wurde der Epochenbegriff der Postmoderne durch jenen der Gegenwart ersetzt. Zeitdiagnosen bezeichnen unsere Situation dementsprechend als permanente oder auch endlose Gegenwart, als ein aufgeblähtes Kontinuum unter den Bedingungen des Netzwerkkapitalismus, das Fortschritt und Zukunft auszuschließen scheint. Während der Blick nach vorn dystopisch verdunkelt ist, werden wir wahlweise von nicht vergangenen Vergangenheiten heimgesucht oder sehnen uns nach einer „verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“, wie der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman in seinem letzten Buch „Retrotopia“ konstatierte.[5]
Diesen Zusammenbruch von linearer Zeitlichkeit, das Leben im endlosen Jetzt, hatte bereits Fredric Jameson als kulturelle Logik des Spätkapitalismus analysiert und mit dem Fehlen adäquater Ausdrucksformen für die Gegenwart begründet.[6] Angesichts der Omnipräsenz einer Retrokultur, in der sich Traurigkeit, Melancholie und Nostalgie seiner Generation zu äußern schienen, formulierte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher zwanzig Jahre später mit Bezug auf Jameson seine These der Heimsuchung der Gegenwart durch die Gespenster der Vergangenheit und entlehnte dafür Jacques Derridas Begriff der Hauntologie [7].
In einem Zusammenspiel von Überstimulierung (durch digitale Medien, hyperzirkulierende Bilder und Inhalte) und Erschöpfung (durch permanentes Recycling kultureller Ausdrucksformen) ist nun die Idee des Neuen gänzlich aus dem zeitgenössischen Denken verschwunden. Das Gegenwärtige ist solcherart mit Vergangenem durchtränkt, dass Unterscheidungen erodieren. Ebenso verschüttet scheint das Wissen darum zu sein, dass all das nicht neu ist und dass nicht nur das Neue tatsächlich einmal möglich war, sondern auch eine andere Realität denkbar. Während die Alternativlosigkeit des Kapitalismus allgegenwärtig ist, zeugen, so Fisher, die heimsuchenden Gespenster von einer Nostalgie für die verlorenen Zukünfte, die das 20. Jahrhundert noch zu antizipieren imstande war. Der gegenwärtige politische und kulturelle Konservatismus sei aber nur dann zu überwinden, wenn eine radikal andere Zukunft wieder vorstellbar werde.[8] Fishers „Hauntology“ wurde breit rezipiert und hat mit der Verbindung von politischer Theorie und der Analyse (pop-)kultureller Phänomene in gewisser Weise einen Zeitgeist getroffen, der sich auch in der künstlerischen Produktion einer jungen Generation widerspiegelt.
Wie dieser kurze Abriss verdeutlicht, treffen im Begriff des Neuen verschiedene Diskurse und Denkschulen aufeinander, die als Rahmenbedingungen gegenwärtigen künstlerischen Schaffens verstanden werden können. Gleichzeitig weckt dieser Begriff in seiner alltagssprachlichen Dimension bei den Rezipientinnen und Rezipienten jeweils individuelle Erwartungshaltungen, die vermutlich unerfüllt bleiben werden. Diese Diskrepanz und den daraus resultierenden Diskussionsbedarf versuchen wir, mit dem Titel, der einerseits Boris Groys direkt zitiert, andererseits in seiner allgemeinen Formulierung wesentlich über dessen Ansatz hinausgeht, zu adressieren.
Junge Szenen in Wien
Auch beim Untertitel handelt es sich um ein – allerdings abgewandeltes, dafür kontextspezifisches – Zitat: Ab 1983 zeigte die Wiener Secession in zunächst zweijährlichem Rhythmus die Ausstellungsreihe „Junge Szene“, die, anfangs von Künstlerinnen und Künstlern organisiert, dem lokalen Schaffen gewidmet war, später in größeren Abständen, in immer wieder verändertem Format, um internationale Positionen erweitert und von zum Teil externen Kuratorinnen und Kuratoren zusammengestellt, zuletzt 2010 unter dem Titel „where do we go from here?“ präsentiert wurde. Als weitere Referenz dienen die „Lebt und arbeitet in Wien“-Ausstellungen, die die Kunsthalle Wien in den Jahren 2000, 2005 und 2010 stets unter Mitwirkung von drei internationalen Kuratorinnen und Kuratoren realisierte. Auf der Basis eines Open Call und gewissermaßen unter entgegengesetzten Vorzeichen fand diese Serie dann in adaptierter Form als „Destination Wien 2015“ ihre Fortsetzung und folgte dabei einem Wienbezug als einzigem Kriterium.
Grundsätzlich treten solche Ausstellungsformate einer lokalen Bestandsaufnahme mit der Absicht an, als Plattform für die jeweils aktuelle künstlerische Produktion oft einer jüngeren und jungen Generation zu fungieren, die als Standortbestimmung gleichermaßen die Unverwechselbarkeit wie auch die Anschlussfähigkeit in einem internationalen Zusammenhang belegen soll. Diese durchaus widerstreitenden Ansprüche werden von weiteren Problematiken begleitet.
So steht eine geografische Abgrenzung in der Auswahl der Kunstschaffenden in Konflikt mit Entwicklungen, die mit der Etablierung des Internets eingesetzt haben. Künstlerinnen und Künstler, die in Wien leben und arbeiten, haben heute Zugang zu Informationen von überall, sie sind mobil und sie tauschen sich mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt aus. Die möglichen Einflusssphären haben sich im Vergleich zu früher vervielfacht, gleichzeitig werden lokale Phänomene sehr schnell zu globalen und entwickeln Wechselwirkungen, was es schwierig macht, sie geografisch oder lokalhistorisch herzuleiten. Die Annahme eines geografisch zuordenbaren, homogenen kulturellen Ausdrucks ist jedenfalls nicht haltbar.
Ebenso problematisch ist die Beschränkung auf ein bestimmtes Altersspektrum. So verleiten generationsbezogene Ausstellungen möglicherweise dazu, die Kausalität verschiedener individueller Phänomene auf einen Faktor zu reduzieren und dabei ebenso relevante Aspekte wie etwa geschlechtliche, ethnische und klassenspezifische Zugehörigkeit, Bildung, ökonomische Bedingungen oder soziales Umfeld auszublenden. Gerade die Kategorie der „jungen Kunst“ ist zudem mit allerlei Stereotypisierungen und Zuschreibungen etwa einer schnelllebigen, am nächsten Hype orientierten Eventkultur befrachtet. Diese verstellen oft den Blick für die Wahrnehmung individueller Produktions- und Bedeutungszusammenhänge.
Gerade im Kontext der nach wie vor definitionsmächtigen Institutionen werden an solche Überblicksformate zudem Erwartungen und Forderungen nach Objektivität, Vollständigkeit und Repräsentativität gestellt, die allesamt nicht einlösbar sind. Während die kuratorische Auswahl letztlich subjektiv und zwangsläufig unvollständig bleiben muss, wird das Ausgestellte dennoch vielfach als exemplarisch und stellvertretend für anderes wahrgenommen. Gleichzeitig impliziert selbst das fragmentarische Abbilden das Herstellen eines wenn auch temporären Repräsentationsgefüges.
Über diese allgemeinen Anforderungen hinaus sind besonders im musealen Zusammenhang die unterschiedlichen Öffentlichkeiten zu berücksichtigen. Während individuelle Museumsbesucherinnen und -besucher jeweils eigene Vorstellungen mitbringen, kommen noch andere Interessengruppen wie Kunstschaffende, Galeristinnen und Galeristen, Sammlerinnen und Sammler, Studierende, Lehrende, Kunstkritikerinnen und -kritiker, Kuratorinnen und Kuratoren hinzu, die ihrerseits stark divergierende Erwartungshaltungen und Bedürfnisse haben. Eine Balance zwischen ihnen herzustellen, um eine breite Zugänglichkeit zu ermöglichen, ohne auf intellektuelle Tiefe zu verzichten, stellt eine der wesentlichen Herausforderungen dar.
Es gibt also zahlreiche Projektionen auf das Format der lokalen, generationsbezogenen Szeneschau. Dabei scheinen die genannten Kategorien nur bedingt dazu geeignet, als verbindende Elemente einen Erkenntnismehrwert zu schaffen, während sie Zuschreibungen und Verallgemeinerungen sicherlich befördern. Warum also diese Ausstellung zum jetzigen Zeitpunkt im Belvedere 21? Und wie ließe sich den skizzierten Problematiken konzeptuell begegnen?
Seit der Wiedereröffnung des ehemaligen 20er Hauses als zeitgenössische Dependance der Österreichischen Galerie Belvedere im Jahr 2011 gilt es, den Ausstellungspavillon als neuen zentralen Ort für die lokale künstlerische Produktion im internationalen Kontext zu etablieren. Neben verschiedenen Ausstellungsformaten, von umfassenden Werkschauen und Retrospektiven über thematische Gruppenausstellungen bis hin zu kleineren Solopräsentationen, widmete sich vor allem das Programm des 21er Raum von 2012 bis 2016 jungen, meist noch nicht etablierten Positionen, die in diesem Zusammenhang erstmals institutionell gezeigt wurden. „Über das Neue – Junge Szenen in Wien“ knüpft also in gewisser Weise gleichermaßen an die eigene Praxis wie auch an die genannten Ausstellungsformate in der Secession und in der Kunsthalle Wien an. Wie erwähnt referiert der Untertitel auf den inzwischen historischen Vorläufer, setzt die Szene aber in den Plural. Vermutlich konnte man auch Anfang der 1980er-Jahre nicht von einer homogenen „jungen Szene“ sprechen, selbst wenn die Situation damals sicher wesentlich überschaubarer war, als sie es heute ist.
Gegenwärtig jedenfalls stellt sich das zeitgenössische Kunstfeld in Wien als extrem vielfältig und diversifiziert dar: Die beiden Kunsthochschulen haben sich im Hinblick sowohl auf Lehrende als auch auf Studierende internationalisiert, im seit 2017 geführten „Independent Space Index“ sind derzeit knapp sechzig unabhängige Kunsträume und Offspaces verzeichnet – so viele wie schon lange nicht mehr. Nach Jahren der Stagnation haben ebenfalls 2017 mehrere neue Galerien geöffnet, und auch die institutionelle Landschaft ist trotz der Schließung einiger privat finanzierter Kunstvereine sehr aktiv. Es wird so viel Kunst produziert, präsentiert und diskutiert wie selten zuvor. Dabei ergänzen sich die Funktionen der unterschiedlichen Orte, während die ökonomischen Rahmenbedingungen extrem differieren.
Zum Konzept der Ausstellung
Mit der Ausstellung beabsichtigen wir, sowohl diese Vielfalt und Lebendigkeit in der Praxis der Kunstproduktion und -präsentation einer jungen Generation in Wien widerzuspiegeln als auch individuelle Positionen darin hervorzuheben. Über einen Plattformgedanken hinaus versuchen wir, die unterschiedlichen Anliegen und Haltungen der Protagonistinnen und Protagonisten in ein Verhältnis zu ihren Ausdrucksformen zu bringen. Ohne Zu- und Festschreibungen wollen wir individuelle Praxen greifbar machen, die in Summe die jüngeren Wiener Szenen ausmachen. Dafür verbinden wir künstlerische und kuratorische Formate zu einem dynamischen Gefüge, das sich über die Dauer der Ausstellung verändert.
Die Architektur dafür ist als offene Raumstruktur angelegt, die an ein gewachsenes urbanes Setting erinnert und sich bewusst nicht am Raster orientiert. Sie spielt mit Abfolgen von engeren Durchgängen und sich öffnenden Plätzen. Die einzelnen Wandelemente haben einen L-förmigen Grundriss, während sich die Dicke der Wände zu den Enden hin verjüngt. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Winkel an den Innen- und Außenseiten, die zudem in der Mehrzahl keinen rechten Winkel bilden. Wir haben die einzelnen Wandelemente so angeordnet, dass außer in drei Bereichen die Bildung von Räumen vermieden wird, um keine Gruppierungen beziehungsweise Kategorisierungen zu suggerieren.
In dieser Architektur werden die Werke von 18 Künstlerinnen und Künstlern gezeigt. Es sind 18 individuelle Zusammenstellungen existierender und neu geschaffener Arbeiten, die Einblick in die jeweilige künstlerische Praxis geben und an jeweils einer Innen- oder Außenseite der Wandelemente präsentiert werden. Mit dem Ziel, durch mehrere Werke dieser Kunstschaffenden die individuelle Praxis im jeweiligen OEuvre zu kontextualisieren, versuchen wir, die Gewichtung der Interrelationalität vom großen Ganzen auf die kleineren Einheiten zu verschieben und damit den Fokus auf die einzelnen Positionen zu verstärken. Unsere kuratorische Auswahl von 18 Künstlerinnen und Künstlern unterliegt dabei zwei Grundvoraussetzungen: Wien als Arbeits- und Lebensmittelpunkt und ein maximales Alter von 35 Jahren. Wir haben uns für eine recht niedrig angesetzte Altersbeschränkung entschieden (meist liegt diese bei maximal vierzig Jahren), um die potenzielle Auswahl so zuzuspitzen, dass sich unter die „emerging artists“ nicht zu viele Künstlerinnen und Künstler in ihrer „mid-career“ mischen.
Natürlich ist uns bewusst, dass unsere Auswahl klein, subjektiv und unvollständig ist. Um die Vielfalt und die Vielstimmigkeit der Wiener Kunstszenen zumindest ansatzweise widerzuspiegeln, haben wir zusätzlich zu den 18 Positionen zwölf Projekträume eingeladen, Ausstellungen in der Ausstellung zu konzipieren. Diese erweitern und multiplizieren unseren kuratorischen Blick, vielleicht kommentieren und konterkarieren sie ihn auch – jedenfalls bringen sie andere Perspektiven aus der Stadt in die Ausstellung ein.
Drei Räume innerhalb der Ausstellung werden so gleichzeitig in einem Intervall von drei Wochen bespielt. Dafür erhielten die Projekträume eine Carte blanche, also keinerlei Vorgaben im Hinblick auf das Format oder die Auswahl und Anzahl der ausgewählten Künstlerinnen und Künstler. Daraus resultieren Solopräsentationen und umfangreiche Gruppenausstellungen, Performances und Screening-Programme mit jüngeren und älteren, lokalen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Dabei bilden sich nicht nur eine Vielschichtigkeit, sondern auch Interessengebiete ab, während ebenso kuratorische Praxen sichtbar werden.
Projekträume arbeiten bekanntlich zumeist prekär und im Vergleich zu Institutionen mit ganz anderen Ökonomien, die stark auf Selbstorganisation, Tausch und Engagement basieren. Vor diesem Hintergrund war uns wichtig, egalitäre Produktionsbudgets für die zwölf Spaces sowie die 18 Künstlerinnen und Künstler bereitzustellen, über die frei verfügt werden konnte. Zudem hofften wir, dass unsere Einladung von den Projekträumen nicht als institutionelle Vereinnahmungsgeste verstanden würde, sondern vielmehr als eine Möglichkeit, eine andere Form der Sichtbarkeit wie auch ein anderes Publikum zu erreichen.
Künstlerische Ansätze und Tendenzen
Während wir in der räumlichen Präsentation der künstlerischen Positionen thematische Anordnungen vermieden haben, um die erwähnten allzu leichten Zuschreibungen und Kategorisierungen nicht zu befördern, lassen sich in der Summe der einzelnen Ausstellungsteile doch einige künstlerische Tendenzen herausarbeiten, liegt doch genau darin das Potenzial eines solchen Formats.
So sind handwerkliche Fertigkeiten und das Beherrschen traditioneller Techniken für viele der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler zentral, oftmals im Verbund mit einer großen Lust am Experimentieren mit Materialien und ihren spezifischen Eigenschaften. Marc-Alexandre Dumoulin etwa schafft in einer altmeisterlichen malerischen Perfektion luzide Gemälde, während sich Edin Zenun mit Öl, Ton und Pigment malereiimmanenten Fragen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion widmet. Angelika Loderer experimentiert mit Hilfsmitteln aus der Metallgussproduktion wie Gusssand, den sie durch Pressen und Stampfen in eigenständige temporäre Skulpturen transformiert. Sasha Auerbakh hingegen folgt weniger den spezifischen Eigenschaften ihrer Materialien, als dass sie sich in obsessiver Arbeit über diese hinwegsetzt. Cäcilia Brown spielt mit widersprüchlichen Konnotationen des Flüchtigen und des Beständigen, wenn sie Pappkartons, die als prekäre Behausungen für die Nacht dienen, in Beton abgießt. Und in Birke Gorms vasenartigen Sandskulpturen und Wandarbeiten aus Jutesäcken treffen Ästhetiken des Haptisch-Kunsthandwerklichen und des Digitalen aufeinander.
Die Bedingungen der Digitalität und die immer lückenlosere Eingebundenheit in verschiedene Mediendispositive werden vermittelt oder unvermittelt in zahlreichen Arbeiten reflektiert. So widmet sich etwa Maureen Kaegi in minutiösen zeichnerischen, also analogen Prozessen Wahrnehmungsphänomenen des digitalen Rauschens, die sie mit kontemplativer Vertiefung kontert. Lukas Posch hingegen beschäftigen die invasiven Erregungseffekte des Digitalen auf Körper und Psyche des Individuums, denen er mit den Mitteln der Malerei begegnet. Und Nana Mandl arbeitet entlang der Bruchlinien der Visualität der Gegenwart, wenn sie die Inflation digitaler Bildproduktion und -zirkulation mit ihrer wandfüllenden Materialcollage in den analogen Raum rückkoppelt.
Das Internet bietet Freiheiten und endlose Entfaltungs-, Informations-, Unterhaltungs- und Konsummöglichkeiten. Die Makellosigkeit des Digitalen hat eine große Anziehungskraft, auch wenn man weiß, dass Algorithmen unser Nutzungsverhalten friktionsfrei zu gestalten versuchen, und ahnt, dass man Manipulationsversuchen ausgesetzt ist. Selbst bei verantwortungsbewusstem Umgang verführen die Angebote des Internets dazu, große Teile der Freizeit mit ihnen zu verbringen. Das bringt auch eine Entkörperlichung mit sich, eine Entfremdung von der eigenen Physis. Gegenläufig zu dieser Entwicklung scheint die Körperlichkeit bei mehreren der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler ein wichtiges Thema zu sein. Etwa bei Birke Gorm, die Idealisierungen des Digitalen ins Unvollkommene des Physischen übersetzt und dabei den Aspekt der körperlichen Arbeit besonders betont. Bei Lucia Elena Průša geht es um subjektive Zeitwahrnehmung, die durch Abläufe im Körper getriggert wird. Für Barbara Kapusta ist der Körper als Verbindungsglied relevant, in dem Innen und Außen zusammenlaufen. Cäcilia Brown stellt ihn und seine Bedürfnisse in ein Verhältnis zum öffentlichen Raum, während Marina Sula interessiert, wie über architektonische Strukturen Haltung und Verhalten korrigiert werden. Sie sieht den Körper als Biomasse, deren Ausformung das Produkt aus Erbanlagen und äußeren Einflüssen ist, außerdem reflektiert sie ihn als einen Ausdruck von Zugehörigkeit und in seinem Verständnis als Maschine und Arbeitsinstrument, das durch Effizienzsteigerung und (Selbst-)Disziplinierung auch zu einer Entfremdung von ihm führt. Der Verwandlung des Körpers durch Prothesen als Optimierung und gleichzeitige Selbstfragmentierung stellt Sula seine Präsenz als Vehikel für potenzielle soziale Interaktion gegenüber.
Auch bei Anna-Sophie Berger ist physische Anwesenheit ein Faktor im Kontext ihrer eigenen Mobilität zwischen verschiedenen geografischen Lebensmittelpunkten. Daraus resultiert ein Moment der Zerrissenheit im Konstruieren der eigenen Identität zwischen Kosmopolitismus und Verwurzelung – und damit die Frage nach Zugehörigkeit, die auch weitere Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung beschäftigt. Johannes Gierlinger etwa adressiert historische und aktuelle politische Radikalisierungen im Kontext nationaler Identitätsentwürfe. Matthias Noggler hingegen beschreibt Zugehörigkeit als gruppendynamischen Prozess, der Mechanismen von Inklusion und Exklusion unterliegt (die auch Lucia Elena Průša thematisiert) und Formen der Subjektivierung mit sich bringt. Birke Gorm wiederum sieht das Individuum gesellschaftlichen Normen und Erwartungen ausgesetzt, denen gegenüber es sich verhalten und demonstrativ positionieren muss. Rosa Rendls Fotografien kreisen um Identität und deren Vermittlung beziehungsweise um die Konstruktion von Authentizität, während Melanie Ebenhoch die Wechselwirkung zwischen der Rezeption von Kunstwerken und der Annahme von Projektionen auf die Figur der Künstlerin dahinter zum Ausgangspunkt für Überlegungen zur Malerei als Medium der Repräsentation macht. Auch bei Philipp Timischl, der auf Herkunft und Sexualität als Faktoren fokussiert, die die soziale Zugehörigkeit beeinflussen, mündet die Frage nach der Identitätskonstruktion im Nachdenken über deren Repräsentation beziehungsweise Emanzipation durch Formen der Selbstdarstellung.
Das Ausbilden von Zugehörigkeiten geht Hand in Hand mit Prozessen der Individualisierung. Das bildet sich in der Ausstellung nicht nur auf der Metaebene der Konstruktionsbedingungen von Identität ab. Es wird auch in Bestrebungen deutlich, der eigenen Identität in ihrer Individualität abseits von Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit und Objektivität künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Im Unterschied zu individuellen Mythologien im Szeemann’schen Sinn fehlen dafür zwar das Archetypische und die Obsessivität, aber Tendenzen zum Rückzug ins Private und Subjektive zeichnen sich bei mehreren der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler ab. Vom Wunsch nach Authentizität getragen werden Emotionen und Empathie zum Inhalt von Werken, die das individuelle Befinden ins Zentrum stellen. Das ist in den Musikvideos von Lonely Boys ebenso zu spüren wie in den inneren Landschaften, die Marc-Alexandre Dumoulin vor uns ausbreitet. Auch wenn Lucia Elena Průša Zeit als subjektive Empfindung darstellt, Sasha Auerbakh den mentalen Ausnahmezustand unerwiderter Liebe verarbeitet, Barbara Kapusta Begehren, Lust und Schmerz in einer kognitiven Dissonanz aufgehen lässt oder Philipp Timischl persönliche Gefühlszustände zu einer retrospektiven Introspektive versammelt, werden innere Zustände zum Ausdruck von Weltanschauungen, die das große Ganze im Existenziellen mitmeinen.
Im Neben- und Miteinander, das die Ausstellung schafft, lassen sich also gedanklich Interessen und Positionsbestimmungen zu Vektoren verbinden, die in verschiedene Stoßrichtungen weisen. Das sind Narrative, die grobe Überschneidungen andeuten und dabei natürlich auch verkürzen. Sie sind unsere subjektiven kuratorischen Projektionen auf das breite Feld der Produktionen und Praxen junger lokaler Künstlerinnen und Künstler, die unsere Auswahl für die Ausstellung mitgeprägt haben. Und als solche haben diese Narrative zwar zum Gesamteindruck der Ausstellung beigetragen, sind aber nicht die tragenden Säulen. Denn das sind die unterschiedlichen Synergien und Wechselwirkungen zwischen einzelnen künstlerischen Haltungen und Vorgehensweisen, kuratorischen Ansätzen und Strategien, die in der Schau verdichtet aufeinandertreffen. Und vielleicht findet sich eben darin eine Antwort auf die Frage nach dem „Neuen“, auf den Verlust von Utopien und Zukunftsperspektiven: im Wechselspiel zwischen Individualisierung und dem Wunsch nach gemeinsamen Zielvorstellungen und der daraus entstehenden Dynamik.
[1] Vgl. Dan Cameron, „Neo-Dies, Neo-Das: Pop-Art-Ansätze in den achtziger Jahren“, in: „Pop-Art“, München 1992, S. 264, zit. nach Boris Groys, „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“, Frankfurt am Main 1999, S. 167.
[2] Boris Groys, „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“, Frankfurt am Main 1999, S. 49.
[3] Groys 1999 (wie Anm. 2), S. 14.
[4] Vgl. Brigitte Werneburg, „Le postmodernisme n’existe pas. Zu Boris Groys’ Theorie des ‚Neuen‘ – Versuch einer Kulturökonomie“, in: taz. Die Tageszeitung, 18.1.1993.
[5] Vgl. Zygmunt Bauman, „Retrotopia“, Berlin 2017, S. 13.
[6] Vgl. Fredric Jameson, „Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism“, London / New York 1991.
[7] Vgl. Jacques Derrida, „Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale“, Berlin 2004.
[8] Vgl. Mark Fisher, „What is Hauntology?“, in: Film Quarterly, 66. Jg., Nr. 1, Herbst 2012, S. 16–24. – Ders., „Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures“, Winchester/Washington 2014.
Katalog zur Ausstellung:
Über das Neue – Junge Szenen in Wien
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Luisa Ziaja
Mit Texten von Severin Dünser, Stella Rollig und Luisa Ziaja
Grafikdesign von FONDAZIONE Europa (Alexander Nußbaumer & Benjamin Zivota)
Deutsch/Englisch
Hardcover mit Leinenüberzug, 18,5 ×28,5 cm, 320 Seiten, 247 Abbildungen
ISBN 978-3-903114-74-6
Rundgang durch die Ausstellung (Video)
»Über das Neue – Junge Kunst aus Wien«
Mit Arbeiten von Sasha Auerbakh, Anna-Sophie Berger, Cäcilia Brown, Marc-Alexandre Dumoulin, Melanie Ebenhoch, Johannes Gierlinger, Birke Gorm, Maureen Kaegi, Barbara Kapusta, Angelika Loderer, Nana Mandl, Matthias Noggler, Lukas Posch, Lucia Elena Průša, Rosa Rendl & Lonely Boys, Marina Sula, Philipp Timischl und Edin Zenun; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja
Kunstraum Innsbruck, 4. Juli – 31. August 2019
»Der Wert der Freiheit«
Zbynĕk Baladrán, Dara Birnbaum, Jordi Colomer, Carola Dertnig, Simon Dybbroe Møller, Harun Farocki, Karin Ferrari, Forensic Oceanography, John Gerrard, Johannes Gierlinger, Lola Gonzàlez, Johan Grimonprez, Igor Grubić, Eva Grubinger, Marlene Haring, Hiwa K, Leon Kahane, Šejla Kamerić, Alexander Kluge, Nina Könnemann, Laibach, Lars Laumann, Luiza Margan, Teresa Margolles, Isabella Celeste Maund, Anna Meyer, Aernout Mik, Matthias Noggler, Josip Novosel, Julian Oliver, Trevor Paglen, Christodoulos Panayiotou, Ivan Pardo, Oliver Ressler, Lili Reynaud-Dewar, Ashley Hans Scheirl, Christoph Schlingensief, Andreas Siekmann, Eva Stefani, Superflex, Pilvi Takala, Philipp Timischl, Milica Tomić, Betty Tompkins, Amalia Ulman, Kostis Velonis, Kara Walker, Stephen Willats, Anna Witt, Hannes Zebedin, Zentrum für Politische Schönheit, Tobias Zielony, Artur Żmijewski
Belvedere 21, Wien
19. September 2018 – 10. Februar 2019
Der Wert der Freiheit
Der Titel dieser Ausstellung verspricht, Antwort auf eine Frage zu geben: Welchen Wert hat Freiheit? Während damit über eine rhetorische Figur festgestellt wird, dass Freiheit grundsätzlich von Wert ist, wird gleichzeitig eine Kette von weiteren Fragestellungen ausgelöst. Ein Wert beschreibt ja eine Relation, aber wozu steht die Freiheit in Verhältnis? Abgesehen davon, dass es schwierig werden wird, die Freiheit zu validieren, ist auch offen, an wen sich die Frage richtet. Adressiert sie jede Einzelne und jeden Einzelnen oder uns als Gesellschaft? Und von was für einer „Freiheit“ sprechen wir hier überhaupt?
Aus den ersten Fragen ergeben sich auch schon erste Anhaltspunkte. So lässt sich erahnen, dass Freiheit keine messbare Naturgröße ist, sondern ein relationaler Begriff, der einem stetigen Wandel unterliegt. Er erfährt in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen und beschreibt als unbestimmte Variable auf psychologischer, sozialer, kultureller, religiöser, politischer und rechtlicher Ebene Aspekte unseres Daseins. Um sich einem zeitgenössischen Verständnis des Begriffs der Freiheit anzunähern, scheint es also angebracht, dessen Interrelationalitäten und Interkontextualitäten zunächst einmal historisch zu beleuchten.
Ihren Anfang nimmt die Geschichte der Freiheit mit der antiken Polis. Etwa ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. organisieren sich Bürger selbstbestimmt in Stadtstaaten. In diesen Gemeinden halten sich bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. Demokratien, in denen die Macht direkt vom Volk ausgeht.[1] Platon sieht die Staatsform kritisch: „Eine Demokratie entsteht, wenn die Armen den Sieg davontragen und von der Gegenpartei die einen hinrichten lassen, die andern verbannen und den übrigen Bürgern gleichen Anteil an der Staatsverwaltung und an den Ämtern geben.“[2] Es gibt also hier schon ein strukturell in der Staatsform angelegtes Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich, Freiheit und Gleichheit, politischer Freiheit und ökonomischer Unfreiheit. In der antiken Philosophie wird der Begriff der Freiheit zudem vor dem Hintergrund diskutiert, dass die Partizipation an politischen Prozessen nicht allen gestattet ist: Unliebsame Personen werden von vornherein aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, Frauen besitzen kein Stimmrecht, ebenso wenig Sklaven. Von den Umständen und Problemstellungen ausgehend entwickelt die antike griechische Philosophie einen Freiheitsbegriff, der Eigenschaften wie Autonomie und Autarkie von der Demokratie auf den einzelnen Menschen umlegt, unabhängig von Stand und Geschlecht. Dem Individuum wird die Herrschaft über sich selbst zugesprochen, Freiheit als „selbstständige Lebensführung“[3] verstanden – allerdings immer in Wechselbeziehung zur Polis, die Gesetze braucht, um ihre Autonomie zu erhalten und damit auch die Freiheit ihrer Bürger.
Die Philosophen der Stoa ziehen sich schließlich aus den Überlegungen zur äußeren und politischen Freiheit zurück und verlagern den Schwerpunkt auf eine innere Freiheit, die eine trotz widriger äußerer Umstände sinnvolle Lebensführung ermöglicht (z. B. auch der Sklavin und dem Sklaven) und den eigenen Begierden und Verlockungen von außen die Vernunft entgegensetzt.
Auch die christliche Heilslehre zieht eine klare Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Der Körper ist an eine von Versuchungen durchdrungene Welt gebunden, während der Geist seine Freiheit im Glauben an Gott ausleben darf. Das eigene Handeln in der Welt wird einer Selbstkontrolle unterworfen, doch die Taten zählen weniger als der richtige Glaube, der dahintersteht. Freiheit kann man sich in der Zeit vor der Aufklärung „nicht erarbeiten, sondern nur erglauben“[4]. Trotzdem gilt das Motto „Ora et labora“, „Bete und arbeite“, denn es geht dabei nicht nur um das Freisein im Geist, sondern ebenso um die Selbstbeherrschung des Körpers, sei es nun als Arbeiter oder als Mensch im Umgang mit anderen.
Die Aufklärung läutet daraufhin wieder eine Wende ein: den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie es Kant formulierte.[5] Der Mensch soll nun wieder selbstständig denken und sich ein Urteil machen, sich auf den eigenen Verstand verlassen, statt nur auf andere zu hören. Rationalität ist nun gefragt, und damit werden Wissen und die Kontrolle von Wissen zum Machtinstrument, das den Glauben ablöst und Freiheit ermöglicht. Der Körper und der Geist können wieder näher aneinanderrücken, aber an die Stelle der Selbstbeherrschung tritt nun die Kontrolle von außen.
Ab dem 17. Jahrhundert können in Europa wieder verstärkt demokratische Strukturen Fuß fassen. In England werden dem Parlament ab 1689 Immunität, Finanzhoheit und Recht auf Versammlung unabhängig vom König verliehen. Schon damals gibt es Bestrebungen der politischen Bewegung der sogenannten „Levellers“, allen (männlichen) Bürgern gleiche Rechte und Religionsfreiheit zuzugestehen. Die Freiheit, die sie fordern, verstehen sie als Eigentümerschaft an sich selbst, was die damalige Oberschicht als Gleichmacherei auffasst.
Aufbauend auf den Ideen von John Locke veröffentlicht Charles Montesquieu 1748 seine Ideen zur Gewaltenteilung.[6] Legislative, Exekutive und Judikative sollen nach seinen Vorstellungen im Staat voneinander getrennt werden, um Despotie zu verhindern und nachhaltig Freiheit zu ermöglichen. Aus einer Mischung dieser Ideen, dem englischen Parlamentarismus und dem Modell der Räteverfassung der Irokesen wird 1787 schließlich der erste moderne demokratische Staat aus der Taufe gehoben: die Vereinigten Staaten von Amerika. Ab dem Ende der frühen Neuzeit kommt es noch zu einer Vielzahl von Umschwüngen, die die absoluten Herrschaften mehr und mehr abschwächen und das Bürgertum im 19. Jahrhundert wieder erstarken lassen.
Aus dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft ergeben sich gleichzeitig neue soziale Problemstellungen, in deren Zentrum der Arbeiter steht. Mit dem Ende der Leibeigenschaft und dem Abwenden von der Sklaverei bekommt das Arbeiten ab dem 19. Jahrhundert einen anderen Symbolwert. Der Arbeiter erhält nun Geld dafür, dass er Körper und Geist an einen Arbeitgeber verkauft. Und das Geld kann dann in weiterer Folge dafür verwendet werden – soweit es für die täglichen Ausgaben reicht –, sich Möglichkeiten zu schaffen, also Freiheiten. Und als der Glaube und der Staat anfangen, ihre Zügel zu lockern und den Individuen mehr Freiheiten zuzugestehen, entsteht Raum für eine neue Machtstruktur: die Marktwirtschaft.
Mit dem Industriekapitalismus nimmt ein Modell an Fahrt auf, das die Arbeit und deren Welt rationalisiert und optimiert. Seine Maxime ist die Profitmaximierung für den Besitzer der Produktionsmittel, sein Paradies ein (interventions-)freier Markt. Der Abstraktionsgrad der Wirtschaft wächst mit dem Aktien- und Finanzhandel stetig an, bis sich die immer häufiger auftretenden Störgeräusche schließlich 1929 in der Weltwirtschaftskrise entladen. Als Reaktion auf die ungezügelte Marktwirtschaft einerseits und die Interventionspolitik der Staaten andererseits entwickeln Walter Eucken und die Freiburger Schule das Konzept des Ordoliberalismus, der politische und wirtschaftliche Freiheit vereinen soll. Eine komplette Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat wird von den Vertretern des Ordoliberalismus abgelehnt, die nach den Erfahrungen unter dem NS-Regime und der Sowjetunion davon ausgehen, dass die Unterdrückung der wirtschaftlichen Freiheit mit politischer Unfreiheit korreliert. Der Staat soll die Rahmenbedingungen vorgeben, um z. B. Formen der Marktbeherrschung zu verhindern, aber nicht in den Wirtschaftsprozess selbst eingreifen. Soziale Gerechtigkeit und Leistungsprinzip sollen in Balance miteinander gehalten werden, genauso wie staatliche Ordnung und Subsidiarität.[7] In Anlehnung an den Ordoliberalismus entsteht das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, das im Gegensatz zu diesem stärkere staatliche Lenkungsinstrumente vorsieht. Die soziale Marktwirtschaft, die ab den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich umgesetzt wird, zielt auf soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ab, während sie den „ungezügelten“ Kapitalismus einschränkt, ihm aber auch Stabilität gibt. 2009 wird im Vertrag von Lissabon die Zielsetzung des sozialen Fortschritts durch wirtschaftliche Leistung auch von der Europäischen Union festgehalten.
Nachdem der sogenannte Ostblock sich Ende der 1980er-Jahre in Staaten mit demokratischen Strukturen verwandelt hat, scheint es, als ob sich Demokratie und Kapitalismus als parallele und sich potenziell befruchtende Systeme weltweit durchgesetzt hätten. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der damit einsetzenden neuen sozialen Spannungen wird das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und Demokratie jedoch zunehmend als problematisch empfunden.
Aber eine neue Grundhaltung scheint im Windschatten der Demokratie an Boden gewonnen zu haben: der Neoliberalismus. Wenn man ihn nach Wendy Brown „als etwas anderes als eine Menge wirtschaftspolitischer Verfahren, eine Ideologie oder eine Umgestaltung der Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft“[8] versteht, nämlich als Neuordnung des Denkens, die „jeden Bereich und jedes Unterfangen des Menschen gemeinsam mit den Menschen selbst gemäß einem bestimmten Bild des Ökonomischen“ verwandelt, kann man ihn durchaus als ernsthafte Herausforderung für die Demokratie wahrnehmen.
Wenn der Mensch sich der Logik der Marktwirtschaft unterwirft, sich das Individuum an Effizienz- und Produktivitätsoptimierung misst und als Humankapital definiert, als Ich-AG nur noch auf den eigenen Wettbewerbsvorteil schielt – könnte das dann heikel werden für die libertäre Demokratie? Und wird das Leben denn freier durch einen Abbau der Regeln, die unser politisches Zusammenleben bestimmen, zugunsten der Marktwirtschaft? Colin Crouch subsumiert unter dem Begriff „Postdemokratie“[9] jedenfalls Phänomene, die nach seiner These eine Entwicklung hin zu deliberativen Demokratien andeuten: Während Nationalstaaten strukturell relativ träge sind, kann die Marktwirtschaft flexibel auf äußere Einflüsse reagieren und so Druck auf Regierungen ausüben. Dadurch erhöht sich der Einfluss von (Wirtschafts-)Eliten auf staatliche Entscheidungen, während die Partizipationsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger sich immer mehr auf das Wählen reduziert, für das Debatten um wenige, ausgesuchte Themen inszeniert werden.
Aus dem kurzen historischen Abriss rund um die Freiheit ergibt sich ein Begriff, der von wechselnden Gegenspielern geprägt wird. Schon in der antiken Polis steht die Freiheit in Relation zu Gleichheit und die ökonomische Ungleichheit in einem Verhältnis zur politischen Gleichheit. In der Religion kommt es zu einer Spaltung zwischen Körper und Geist, die Selbstbeherrschung des Körpers wird zur Voraussetzung der nur noch geistig möglichen Freiheit. Die Aufklärung stellt logisches Denken über das Glauben und erhebt das Wissen zum Werkzeug der eigenen Befreiung aus der Unmündigkeit. Damit einhergehend kommt es zu Demokratisierungstendenzen, die der Freiheit des Bürgers im Staat neue Kontrollmechanismen entgegensetzen. Der ehemals Leibeigene wird zum Arbeiter, womit Freiheit zum Tauschobjekt wird: Arbeitskraft gegen Geld, Geld gegen Freiheit und vice versa. Das Streben nach der Akkumulation von Geld führt zum Kapitalismus, der die Freiheit des wirtschaftstreibenden Subjekts durch den Staat eingeschränkt sieht. Durch die zunehmende Komplexität und Abstraktion der Wirtschaft durch Aktien- und Finanzhandel in Verbindung mit der Aushebelung von staatlichen Kontrollinstanzen kommt es zum Zusammenbruch der Weltwirtschaft, infolge dessen die wirtschaftliche Freiheit strengeren Regeln unterworfen und der Versuch unternommen wird, sie in einer Balance mit der sozialen Gerechtigkeit zu halten. Während sich die Demokratie als Staatsform im Zusammenspiel mit der Marktwirtschaft ab den 1990er-Jahren zunehmend als alternativlos darstellt, kommt es mit der Globalisierung zu zunehmenden Spannungen zwischen den beiden. Und nun scheint das Denken des Neoliberalismus als neues Leitbild die vor zu langer Zeit errungenen, selbstverständlich wirkenden Freiheiten nach und nach wieder aufzulösen und die Demokratie langsam auszuhöhlen.
Vor diesem Hintergrund verhandelt die Ausstellung also den „Wert der Freiheit“. Wie das Thema selbst ist auch die Ausstellung als komplexes Feld von einander bedingenden Beziehungen aufgebaut. Anhand mehrerer sich überlappender Bereiche und querverbindender Erzählstränge wird versucht, sich der Thematik über unterschiedliche Perspektiven anzunähern.
Ein zentraler Teil der Ausstellung widmet sich direkt der Frage, was Freiheit denn überhaupt sein soll. Geht es um ein Freisein an der Schwelle zwischen Natur und Kultur (Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Menke), oder ist Freiheit nur ein Spiel, dessen Regeln und Widerstände es erst interessant machen (Simon Dybbroe Møller)? Kann der Mensch überhaupt mit Freiheit umgehen oder braucht er Regeln (Artur Żmijewski)? Kann das Eingrenzende zugleich Objekt der Begierde sein (Lars Laumann)? Ist der Sklave nie zu Ende befreit (Kara Walker)? Was symbolisieren Freiheitsmonumente, wie nehmen wir sie wahr, was lösen sie in uns aus (Dara Birnbaum, Luiza Margan)?
Um die Demokratie und um Staatsformen, die die Strukturen des Zusammenlebens bestimmen, geht es in einer weiteren Zone. Es wird nachgefragt, was Demokratie denn eigentlich ist und wie sie sein könnte (Oliver Ressler), die Choreografie und Konstruktion von Öffentlichkeit analysiert (Christodoulos Panayiotou), zur öffentlichen Rede animiert (Carola Dertnig) und dafür plädiert, die Liebe anstelle der Angst in den Mittelpunkt der Politik zu stellen (Johan Grimonprez). Der öffentliche Raum, der ein Spiegelbild der Vorstellungen der Politik genauso darstellt wie die teils differierenden individuellen Bedürfnisse, wird in einer Reihe weiterer Werke thematisiert. Mit „defensiver Architektur“[10] und Verboten werden sowohl unerwünschte Nutzungen verhindert als auch spezifische Handlungen und oft auch mit ihnen verbundene Bevölkerungsgruppen aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt (Šejla Kamerić, Nina Könnemann). Gleichzeitig ist er ein Raum von potenzieller (Milica Tomić) und tatsächlicher Gewalt (Teresa Margolles), der das subjektive Sicherheitsgefühl zu einem die Politik bestimmenden Faktor aufsteigen ließ. Um öffentliche Sicherheit und Ordnung und sein Gewaltmonopol zu gewährleisten, verfügt der Staat über ein Kontrollinstrumentarium, dessen Qualität und Quantität Ausdruck des Verhältnisses zwischen staatlichen Interessen und individuellen Bedürfnissen sind. Menschenmengen werden geregelt (Eva Grubinger), das Individuum überprüft (Aernout Mik), seine Kommunikation überwacht (Trevor Paglen, Julian Oliver) und Inhalte zensuriert (Betty Tompkins).
Die Kontrolle von Information ist heute ein zentrales Mittel der Macht. Wer weiß, welche Informationen für welche Öffentlichkeiten relevant sind und über welche Kanäle man deren Ansichten beeinflussen kann, kann auch gezielt Mehrheitsmeinungen herstellen, um politische Ziele durchzusetzen. So steht das statistische Wissen der Betreiber von Suchmaschinen und sozialen Plattformen heute einer inhaltlichen Orientierungslosigkeit der Benutzer gegenüber, die aus einer teilweisen Entfremdung von etablierten Medien resultiert (Karin Ferrari, John Gerrard, Anna Meyer). Daneben lobbyieren Think Tanks im Verborgenen für ihre Ideen und Interessen (Andreas Siekmann), was zusätzlich zu einem kollektiven Gefühl asymmetrischer Verteilung von Information rund um politische Entscheidungsfindungen führt. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins aus politischen Prozessen erzeugt gleichzeitig Aktivismen, die öffentliche Darstellungen hinterfragen und kritische Öffentlichkeiten erzeugen (Forensic Oceanography, Zentrum für Politische Schönheit, Igor Grubić, Hiwa K, Laibach).
Dass die Freiheit ein fragiles Gut ist, führt eine Reihe weiterer Arbeiten vor. Die Verunsicherung durch steigende Komplexität, Widersprüchlichkeiten und beschleunigten Wandel (The Centre for Postnormal Policy & Future Studies) führt zu Rufen nach einem stärkeren Staat, ebenso Angst als gesellschaftliches Leitmotiv (Christoph Schlingensief). Korruption führt dagegen zu einer langsamen Zersetzung der Demokratie (Superflex). Mit der Auflösung des gesetzlichen Regelwerks ist man dann mit dem Recht des Stärkeren konfrontiert (Lola Gonzàlez) oder mit der absoluten Freiheit (Hannes Zebedin), je nach Sichtweise. Dem stehen utopische Entwürfe (Jordi Colomer, Eva Stefani, Anna Witt), die Flucht ins Innere bzw. in eine traumhafte Realität (Johannes Gierlinger) oder in Gegenwelten gegenüber (Tobias Zielony).
Um Freiheit geht es auch bei Subjektivierungsprozessen, also Vorgängen, durch die ein Individuum eine Position in einer sozialen Struktur zugewiesen bekommt und dadurch zum Subjekt wird. Über diesen Prozess wird nicht nur die Selbstwahrnehmung verändert, sondern auch der Handlungsspielraum des Subjekts definiert (Stephen Willats). Das Individuum möchte aber als das Subjekt wahrgenommen werden, als das es sich auch selbst sieht (Zbyněk Baladrán, Kostis Velonis), um auch in der Gesellschaft angemessen repräsentiert zu werden und den vom Individuum auf das Selbst projizierten Handlungsspielraum realisieren zu können. Während heteronormative Geschlechterrollen dekonstruiert und Identitäten individuell konstruiert werden (Matthias Noggler, Josip Novosel, Ashley Hans Scheirl, Philipp Timischl), kommt es zur Bildung von Gruppen nach kulturellen, ethischen, sexuellen und sozialen Merkmalen (Leon Kahane), die im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Rechte (Isabella Celeste Maund, Marlene Haring) teilweise Menschen sowohl aus ihren Communitys ausschließen (wenn sie die Merkmale nicht erfüllen) als auch das Recht absprechen, sich zu ihren Anliegen zu äußern (Lili Reynaud-Dewar).
Abseits von geschlechtlicher, ethnischer und sozialer Zugehörigkeit ist auch Arbeit ein identitätsstiftender Faktor. Im Unterschied zur christlichen Selbstkontrolle des Körpers durch Arbeit in Opposition zu einer Freiheit im Glauben wird der Körper heute im Fitnessstudio optimiert, um langfristig Lebenszeit zu generieren, während Arbeitszeit geopfert wird, um über den Tausch gegen Geld Freiheiten kurzfristig umsetzbar zu machen. Es scheint vernünftig zu sein, eine ausgewogene Work-Life-Balance zu haben, während die Rationalisierung von Arbeitsprozessen und die Organisation von Humankapital (Harun Farocki) als Maßstab auf das Privatleben umgelegt werden (Amalia Ulman). Wie die täglichen Schritte ins Büro vom Smartphone gezählt werden, wird das Selbst in all seinen Facetten vermessen, vergleichbar gemacht und in Wettbewerb gestellt. Aber was gibt es zu gewinnen? Einen Preis für individuelle Effizienz? Oder muss die Gesellschaft den bezahlen? Die Produktivitätsmaxime (Pilvi Takala) scheint jedenfalls nicht verhandelbar zu sein.
Die Ausstellung umkreist also ein Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen: zwischen Mensch und Gesellschaft, Demokratie und Ökonomie, Arbeit und Freizeit, Körper und Geist, Natur und Kultur. Die Freiheit erweist sich in ihrem Wesen als relational, und sie muss auch ständig neu verhandelt werden. Wer mehr Geld hat als die anderen, hat auch mehr Macht und damit auch mehr Freiheit. Aber gibt es Freiheit überhaupt ohne die Differenz zum anderen?
Die Freiheit des Individuums beginnt jedenfalls mit seiner Subjektwerdung, der Befreiung von der Naturgetriebenheit. Dies ist ein Prozess der elterlichen Erziehung, „in dem aus der emotionalen Einheit von Freiheit und Kontrolle in der symbiotischen Beziehung Schritt für Schritt das Bewusstsein von Freiheit und Kontrolle wird“[11]. An diese Verbindung von Freiheit und Kontrolle, die man als Liebe erfährt, versucht man sich ein Leben lang wieder anzunähern. Um ihr nahezukommen, benötigt man allerdings beide Pole. Die Bewegung zwischen den Polen, der Vorgang des Sichbefreiens, ist, was wir als Freiheit empfinden – ein Prozess also, kein Zustand.
Der Vollzug der Bewegung zwischen den Polen von Natur und Kultur begleitet unser Menschsein.[12] Und nur das Dazwischensein ermöglicht uns das Erkennen der Differenz und führt uns zum Begreifen dessen, was wir als Freiheit an den Weggabelungen unserer Leben festmachen.
[1] Das Wort „Demokratie“ geht sprachlich auf die Verbindung des altgriechischen „dēmos“ – Volk – mit „kratós“ – Herrschaft – zurück.
[2] Platon, „Politeia“, 557a.
[3] Pseudo-Platon, „Definitionen“, 412 d 1.
[4] Markus Metz / Georg Seeßlen, „Freiheit und Kontrolle“, Berlin 2017 (E-Book), Kap. „Der Christenmensch und seine Freiheit“.
[5] Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, Kap. 1, 1. Satz.
[6] Charles Montesquieu, „Der Geist der Gesetze“, Genf 1748.
[7] Das Subsidiaritätsprinzip sieht vor, Probleme auf möglichst kleiner Ebene, also z. B. durch das Individuum, zu lösen. Nur wenn Probleme auf einer Ebene nicht durch eigene Kraft gelöst werden können, soll die nächsthöhere Ebene unterstützend eingreifen und der darunterliegenden Ebene Hilfe zur Selbsthilfe geben.
[8] Wendy Brown, „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“, Berlin 2015, S. 8.
[9] Colin Crouch, „Postdemokratie“, Frankfurt a. M. 2008.
[10] Defensive Architektur verhindert bestimmte Nutzungen von zumeist öffentlichem Raum. Z. B. werden Parkbänke so gestaltet, dass darauf nicht geschlafen werden kann, Flächen vor Ladenfronten so, dass Menschen dort nicht länger verweilen. Unerwünschte Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose oder Drogenabhängige werden dadurch aus dem Bild des öffentlichen Raums verdrängt.
[11] Metz/Seeßlen 2017 (wie Anm. 4, Kap. „Ach, die Gefühle, oder Wie Freiheit zur Produktivkraft wird“).
[12] „Es beginnt damit, dass wir mithilfe anderer die Fähigkeit erwerben, uns von der einfachen Naturgetriebenheit zu befreien. […] Die Welt, die uns einen Abstand von den natürlichen Antrieben verschafft hat, versklavt uns sofort wieder. […] Durch Verweilen auf der Schwelle zwischen erster und zweiter Natur kann man eine Analyse davon machen […]. Befreiung glückt immer erst beim zweiten Mal.“ Christoph Menke im Gespräch mit Alexander Kluge, „Freiheit glückt beim zweiten Mal“, in: „10 vor 11“, dctp.tv, Sendung vom 21.11.2016.
Katalog zur Ausstellung:
Der Wert der Freiheit
Herausgegeben von Stella Rollig und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, C Scott Jordan, Oliver Marchart, Elżbieta Matynia und Stella Rolling
Grafikdesign von grafisches Büro, Wien
Deutsch/Englisch
Hardcover, 22 × 30,5 cm, 160 Seiten, 262 Abbildungen
Verlag für moderne Kunst, Wien, 2018
ISBN 978-3-903114-63-0
»Bottoms Up!«
Mit Werken von Martin Guttmann, Julian Göthe, Christina Gruber & Clemens Schneider, Michele di Menna, Fernando Mesquita, Michael Part, Lucia Elena Průša und Marina Sula; kuratiert von Severin Dünser und Olympia Tzortzi
Fluc, Praterstern 5, Wien
14. März 2018
Beim gemeinschaftlichen Trinken werden soziale Bindungen geknüpft, es wird kommuniziert und interagiert. Die Wahl der Getränke definiert dabei auch die Beziehung der Partizipierenden untereinander, während damit verbundene Rituale Strukturen für die Art des Zusammenseins vorgeben. Die Künstler der Ausstellung haben eine Reihe von Getränken konzipiert und appropriiert bzw. damit in Verbindung stehende Handlungsanweisungen formuliert:
Martin Guttmann konnte man die Hand auflegen, um durch Gedankenübertragung zu erfahren, an welche Künstlerin bzw. An welchen Künstler er gerade denkt. Lag man falsch – und das war eigentlich immer der Fall – musste man einen Vodkashot trinken.
Julian Göthe mischte aus Noilly Prat Wermut und Tanqueray Number Ten Gin seinen Lieblingsmartini.
Christina Gruber & Clemens Schneider luden auf einen Milkshake und ein Sinnieren über den schleichenden Niedergang der Idee des American Dream ein.
Michele di Menna steuerte einen Drink bei, den sie »Cosmic Imbalance« getauft hat. Er besteht aus zwei Shots nacheinander: Zuerst ein süsslicher Whiskey-, dann ein Gewürzgurkenwasser-Shot.
Fernando Mesquitas Beitrag war ein portugiesisches Trinkspiel, das »Jogo da moeda«. Bei dem Münzspiel können von jedem Mitspieler bis zu drei Münzen verdeckt auf den Tisch gelegt werden - wer die Anzahl der Münzen errät, ist raus, wer am Schluss übrig bleibt, muss eine Runde zahlen.
Michael Part bereitete einen speziellen Vodka für den Abend zu, der das Getränk mit der charakteristischen Note von Chanels Nr. 5 kombinierte.
Lucia Elena Průša brachte Kakao aus Mexiko mit, den sie zusammen mit Chili, Zimt und Wasser zu einem Heißgetränk aufkochte, das dort wo der Kakao herkommt auch so getrunken wird.
Marina Sula braute aus Zimt, Jasmin, Grapefruit, Rosenblüten und anderen Zutaten einen magischen Trank. Der Liebestrank nach altem Rezept versprach, dass die Person die ihn trinkt sich in die Person verliebt, die das Getränk überreicht hat.
Was ansonsten die Kommunikation begleitet, wurde in der partizipativen Ausstellung selbst zum inhaltlichen Kern, während es ganz in der Tradition der Relational Aesthetics ein Conversation Piece zu einer Sozialen Skulptur machte und umgekehrt.
Eva Koťátková
»Stomach of the World«
21er Haus, Wien
14. November 2017 – 18. Februar 2018
Eva Koťátková sieht die Entfaltung des Selbst als Gratwanderung zwischen inneren und äußeren Zwängen. Ihre Ausstellung im Untergeschoss des 21er Haus umkreist als raumfüllende Installation mit einer Vielzahl von Objekten ihren Film »Stomach of the World« (2017) als Dreh- und Angelpunkt dieses Gedankens. In dem surrealen und gleichsam humorvollen Film wird die Welt aus der Perspektive von Kindern erfahren, die verschiedene Übungen ausführen.
Der eigene Körper wird von den Kindern gezeichnet, ein Röntgenbild mit Stift auf Papier angefertigt, das eine Reise durch das Innere dokumentiert. Luft wird wieder eingeatmet, die andere schon verwendet haben. Das Sprechen wird zu einer Art des Essens, wenn beim Artikulieren die Wörter mit den Zähnen gebissen werden. Eine gemeinsame Autopsie des Magens von jemandem wird zu einer Lektion im Verlernen von Mitgefühl für andere. Ein Magen wird im Rahmen eines Puppentheaters mit Requisiten gefüllt, bis nichts mehr hineinpasst. Eine Schlange wird für ein Spiel vorbereitet, der Bauch genäht, ein Plan formuliert. Bei der darauf folgenden Jagd hat die Maus immer das Nachsehen. Das Innere der Schlange wird erkundet, ein Ausgang gesucht und gefunden. Es wird kopfüber gehangen in der Hoffnung, die Organe könnten sich im Körper besser anordnen. Es wird Epidemie gespielt, bis sich kein Körper mehr bewegt und es Zeit wird um sich neuen Gebieten zuzuwenden. Der Blick wird fixiert auf eine Müllhalde – den offenen Bauch der Welt. Dinge werden wiederverwertet, die Akteurinnen und Akteure werden zu Dingen – zum beiderseitigen Vorteil.
In »Stomach of the World« imaginieren die Akteurinnen und Akteure die Welt als eine Art Körper, der Objekte und Subjekte in sich aufnimmt und transformiert. Koťátková entwirft die Vorstellung einer Welt als riesige Müllhalde, auf der Dinge sich aufschichten, verrotten und einsickern; ein Magen gefüllt mit Mägen und mit dem, was sie füttert und füllt; der Magen der Welt, die Maschine in der Maschine. Es geht um eine Welt, in der die Fähigkeit zur Empathie verloren geht, Wechselwirkungen zwischen Mikro und Marko außer Kontrolle geraten sind, die Kommunikation über die Realität nicht mehr deckungsgleich mit den Erfahrungen aus dem Alltag ist, Erziehung mit Manipulation gleichgesetzt ist, Opfer und Täter nur mehr Rollen sind, und der Körper im Körper der Welt feststeckt. Die Welt als Schlange, die sich in ihrem Bauch auftürmt: Es geht um eine Politik von Essen und Gefressenwerden.
Eva Koťátková wurde 1982 in Prag geboren, wo sie auch heute lebt.
»Instructions for Happiness«
Anna-Sophie Berger, Keren Cytter, Heinrich Dunst, Simon Dybbroe Møller, Christian Falsnaes, Barbara Kapusta, Rallou Panagiotou, Angelo Plessas, Maruša Sagadin, Hans Schabus, Socratis Socratous, Jannis Varelas, Salvatore Viviano, Anna Witt; kuratiert von Severin Dünser und Olympia Tzortzi
21er Haus, Wien
8. Juli – 5. November 2017
Glücklichsein zählt zu den grundlegenden menschlichen Empfindungen und wir streben wohl alle danach, diesen Zustand auf die eine oder andere Art zu erreichen. Und um das persönliche Streben nach Glück geht es auch in dieser Ausstellung. Aber Anleitungen zum Glücklichsein? Da Glücklichsein eine sehr individuelle Angelegenheit ist, sind Anleitungen um dem Glück näher zu kommen natürlich eine recht absurde Versprechung. Trotzdem versucht die Ausstellung, sich dem Phänomen aus verschiedenen Perspektiven anzunähern.
Abgesehen davon, dass die Menschen schon immer versucht haben herauszufinden was glücklich macht und wann man sich selbst einen glücklichen Menschen nennen kann, gibt es nicht nur heute eine Fülle von Lebensratgeberliteratur, sondern gab es schon im Altertum immer wieder Anleitungen zum Glücklichsein. Natürlich waren sie mehr philosophischer Natur. Platon rät die drei Seelenteile Vernunft, Willen und Begehren nicht in Widerspruch kommen zu lassen und sie in Balance zueinander zu halten, um glücklich zu sein. Die Selbstverwirklichung ist laut Aristoteles eng verknüpft mit dem Glücklichsein, da man glücklich ist, wenn man gut ist in dem, was man sich zur Aufgabe gemacht hat und damit sowohl einen Platz in der Gesellschaft einnimmt als auch etwas zu ihr beiträgt. Für Epikur ist das persönliche Glück abhängig von strategisch eingesetztem Verzicht – um dann umso glücklicher zu sein, wenn man seinen Lüsten nachgeht, aber nicht abgestumpft zu werden von zu Vielem, das über die Grundbedürfnisse hinausgeht. Das Pflegen von zwischenmenschlichen Beziehungen etwa zählt er dazu. »Verschwende nicht was du im Moment hast mit den Gedanken an das, was du haben könntest. Sei Dir bewusst, dass das was du jetzt hast, ein Teil von den vielen Dingen ist, die du zu haben oder zu erreichen erträumt hast«, gibt Epikur mit auf den Weg. »Lerne still zu sein, lasse deinen Geist ruhen um zu hören und zu absorbieren« meinte Pythagoras, der auch zitiert wird mit »Je mehr aber unser Geist versteht, desto seliger sind wir.«
»Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«, sagt der Volksmund. Es ist von Mensch zu Mensch verschieden was glücklich macht - alle haben wir individuelle Bedürfnisse, und deren Erfüllung muss dementsprechend auch von allen selbst in die Hand genommen werden. Unabhängig davon, ob die Erfüllung im Zwischenmenschlichen, Unmittelbaren oder Alltäglichen bzw. in der Schönheit der kleinen Dinge im Leben gesucht wird, versucht die Ausstellung die Vorstellungen vom Glücklichsein zu hinterfragen.
In der Arbeit von Anna-Sophie Berger etwa wird dazu aufgefordert, ein Kartenhaus zu bauen und es dann wieder einstürzen zu lassen – Präzises, konzentriertes Arbeiten auf ein Ziel hin, und die Freiheit das Produkt des eigenen Schaffens wieder hinter sich zu lassen. In Keren Cytters Videoinstallation spiegelt man sich selbst beim Anschauen einer Geschichte rund um eine Familie, Liebhaber, ein Strandhaus und einen einsamen Jungen, während man langsam von einer ruhigen Stimme in einen meditativen Gemütszustand gezogen wird. Heinrich Dunst stellt Fragen nach dem Status. »Nicht Worte« steht auf einem Bild, wurde aber durchgestrichten, darunter: »Dinge«. Eine doppelte Verneinung? Also doch Worte, als auch Dinge? Darunter jedenfalls liegt ein Fußabstreifer im Mondrian-Design, bei dem ebenfalls unklar ist ob er einfach ein Ding ist, ein bildhaftes Ding, oder ein dinghaftes Abbild eines Bildes. Auf Simon Dybbroe Møllers Fotografie ist eine Umarmung zwischen einem Koch und einem Installateur zu sehen. Geht es hier um Zwischenmenschliches? Eher um Körperliches: um Essen und Verdauen, um »Basics«, sozusagen. Christian Falsnaes’ Soundinstallation gibt Anweisungen für einfache Handlungen zwischen den Besuchern, bei denen soziale Konventionen spielend überschritten werden und die dabei sichtlich Freude bereiten. Barbara Kapusta dagegen lädt dazu ein, aus Modellierton Tassen und Schalen herzustellen – mit dem eigenen Körper also Trinkgefäße zu formen, die Grundbedürfnisse stillen. Rallou Panagiotou kombiniert unpersönliche Koffer mit Nachbildungen von Dingen aus glücklichen Erinnerungen – etwa das Paar Sandalen das in den 1990er Jahren an einem Strand verloren ging oder die vermeintliche Maske einer Medusa die im Sommerhaus der Großmutter hing. Nach dem Motto »sharing is caring« offeriert uns Angelo Plessas einen Speicherstick mit Daten zum Überspielen auf das eigene Gerät. Darauf finden sich jede Menge Selbsthilfebücher, Meditationsmusik, Ratgeber für das Liebesleben und Spiritualität – es scheint für alle möglichen Lebenslagen etwas dabei zu sein. Jannis Varelas gibt uns die Anweisung, den Ausstellungsraum zu verlassen und beim Spazieren durch die Stadt doch noch einmal darüber nachzudenken, ob man seine Aufmerksamkeit nicht doch noch einmal der Kunst widmen soll. Salvatore Viviano bittet darüber nachzudenken wie einsam man ist, während man Elvis Presley zuhört, wie er beim Singen von »Are you lonesome tonight« immer wieder zu lachen beginnt. Maruša Sagadins Skulpturenensemble lädt ein zur Reflexion des Lebens im öffentlichen Raum – einerseits hinterfragt sie die regenerativen Möglichkeiten im urbanen Bereich, andererseits die Funktion des Schminkens und die damit verbundenen formelhaften Konventionen der Repräsentation des Selbst: Wenn der Lippenstift ein Gebäude ist, ist mein Gesicht dann eine Fassade? Eine andere Frage stellt sich Hans Schabus mit seiner Plastik: Wenn das Glück ein Vogerl ist, ist es dann flüchtig? Und wenn ja, sollte man ihm dann nicht besser ein Häuschen bauen? Auch Socratis Socratous’ Skulpturen handeln von Zufluchtsorten. Kleine Inseln mit Pollern deuten Anlegestellen an. Sie bestehen zum Teil aus eingeschmolzenem Kriegsmaterial aus Konfliktgebieten. Es geht um Migration übers Meer und sichere Häfen, die man zu erreichen hofft. Anna Witt lässt in ihrer Videoinstallation schließlich eine Gruppe sechzig Minuten lang lächeln. In ihrem Werk geht es um die Kommerzialisierung von Emotionen, den Ausverkauf der eigenen Gefühle, der im Video zu einer Belastungsprobe wird.
Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung fordern mit ihren Arbeiten also dazu auf Handlungsanweisungen zu befolgen, auf hergestellte Situationen zu reagieren, Gegenstände zu benutzen, mit anderen zu interagieren, bzw. stoßen Denkprozesse zum Thema an. Die formal und inhaltlich sehr unterschiedlichen Positionen spiegeln die Vielfalt der Perspektiven wider, die die Künstlerinnen und Künstler – wie die Gesellschaft im Allgemeinen – auf das Glücklichsein haben.
Walter Benjamin schrieb »Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst inne sein zu können.« In diesem Sinne laden wir ein, sich ohne Vorbehalt auf die Arbeiten einzulassen und die Erfahrung aus den verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen Glücklichsein zur Reflexion zu nutzen. Zumal die eigene Erfülltheit auch damit zusammenhängt, seine Bedürfnisse und das damit verbundene Handeln zu reflektieren und so ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben zu führen – also die Lebenskunst im philosophischen Sinn zu beherrschen. Denn, um mit einem Zitat des Soziologen Gerhard Schulze zu schließen: »Wofür lebt man, wenn nicht für das schöne Leben?«
Katalog zur Ausstellung:
Instructions for Happiness
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Olympia Tzortzi
Mit Texten von Anna Sophie Berger, Keren Cytter, Severin Dünser & Olympia Tzortzi, Heinrich Dunst, Simon Dybbroe Møller & Post Brothers, Christian Falsnaes, Barbara Kapusta, Rallou Panagiotou, Angelo Plessas, Stella Rollig, Maruša Sagadin, Hans Schabus, Socratis Socratous, Jannis Varelas, Salvatore Viviano und Anna Witt
Grafikdesign von Alexander Nußbaumer
Fotografien von Thomas Albdorf
Deutsch/Englisch
Hardcover, 22,5 × 16 cm, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-41-8
»Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst«
Marc Adrian, Martin Arnold, Vittorio Brodmann, Georg Chaimowicz, Adriana Czernin, Josef Dabernig, Gunter Damisch, VALIE EXPORT, Judith Fegerl, Michael Franz / Nadim Vardag, Padhi Frieberger, Bernhard Frue, Walter Gamerith, Bruno Gironcoli, Samara Golden, Judith Hopf, Alfred Hrdlicka, Iman Issa, Martha Jungwirth, Jesper Just, Tillman Kaiser, Johanna Kandl, Joseph Kosuth, Susanne Kriemann, Friedl Kubelka / Peter Weibel, Luiza Margan, Till Megerle, Henri Michaux, Muntean Rosenblum, Walter Pichler, Tobias Pils, Arnulf Rainer, Ugo Rondinone, Isa Rosenberger, Gerhard Rühm, Markus Schinwald, Toni Schmale, Anne Schneider, Richard Teschner, Simon Wachsmuth, Rudolf Wacker, Anna Witt; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja
21er Haus, Wien
22. Juni 2017 – 14. Jänner 2018
Am Anfang jeder thematischen Gruppenausstellung steht die raumzeitliche Differenz ihrer Teile, entstammen diese doch jeweils spezifischen Kontexten, die in ihrer ästhetischen Erscheinung mehr oder weniger explizit werden. Im Aufeinandertreffen dieser Teile und insbesondere in konkreten Konstellationen einzelner Arbeiten werden diskrete Verbindungen zwischen ihnen wahrnehmbar, entstehen oder verstärken sich Sinnzusammenhänge oder ergeben sich auch Widersprüche. Diese bedeutungsgenerierenden Effekte des Mediums Ausstellung machen sie zu einem Raum der Verhandlung, in dem wir als Betrachterinnen und Betrachter immer wieder neu die dargebotenen visuellen und narrativen Stränge aufnehmen, weiterspinnen, fallen lassen oder an anderer Stelle verknüpfen.
Unsere kuratorische Auswahl und Kombination von Arbeiten aus dem Sammlungsbestand des Belvedere und der Artothek des Bundes ist angetrieben von der Frage nach einer Relevanz im Hier und Jetzt im Hinblick auf das im Titel »Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst« angesprochene Spannungsfeld: Fenster markieren die Schwelle zwischen privat und öffentlich, sie sind Öffnungen, die von innen den Blick auf das Außen einrahmen, während wir uns von draußen in ihnen spiegeln. Beide Motive – der Spiegel wie auch das Fenster – sind bekannte Metaphern für die Erkenntnis der Welt und die Erkenntnis des Selbst in der bildenden Kunst. Dieser Sicht auf das Innere, das Äußere und deren Wechselwirkungen geht die Präsentation nach.
Den Auftakt bilden Arbeiten, die im weitesten Sinne die Artikulationsfähigkeit des Subjekts angesichts einer krisenhaften Gegenwart zum Thema haben. So beleuchtet Joseph Kosuth buchstäblich eine Textpassage aus Sigmunds Freuds »Psychopathologie des Alltagslebens« zu sprachlichen Fehlleistungen in Kriegszeiten, während Muntean Rosenblum die Szene des gewaltsamen Aufeinandertreffens von Demonstrierenden und Polizei mit der Dissonanz persönlichen Erinnerns und offizieller Geschichtsschreibung verknüpfen und Anna Witt mit ihrer Videoinstallation zum »Radikal Denken« und Entwerfen einer anderen Wirklichkeit anregt.
Von der Präsenz des Körpers in seiner Absenz erzählen die Fotografien von Bernhard Frue und Nadim Vardag: Frues Negativprint »Samthansen« verdeutlicht, wie sich die Schattenökonomie der Sexarbeit mittels improvisierter Blickbarrieren in einen öffentlichen Park einschreibt; Vardag hingegen macht durch die Verfremdung eines ikonischen Bildes Mechanismen der Fetischisierung sichtbar. Um die Inszenierung von Begehren im Mainstreamkino und deren Brechung kreist »A Vicious Undertow« von Jesper Just; Luiza Margan wiederum nimmt anhand einer von Paaren im öffentlichen Raum ausgeführten Geste traditionelle Geschlechterverhältnisse in den Blick, während VALIE EXPORT die Normierung des weiblichen Körpers in ein Verhältnis zu urbaner Architektur setzt. Mit anthropomorphen Qualitäten auf ganz unterschiedlichen Ebenen operieren Anne Schneider und Judith Hopf: Schneiders »Bodyguards« behaupten sich zwischen Figuration und Abstraktion oszillierend in ihrer Materialität und Farbigkeit, während Hopfs wartender, scheinbar dauerbereiter Laptop als quasianimiertes Ding auf das burnoutgeplagte Individuum verweist. Und Till Megerles menschlicher Schubkarren zeugt von einem Spiel mit Macht und Unterwerfung, das Körper und Psyche gleichermaßen betrifft.
Zeichnungen von Megerle finden sich auch in der folgenden Konstellation, die sich Phänomenen des Spirituellen widmet und nach der gegenwärtigen Bedeutung religiöser Motive fragt. Die Zeichnungen von Eselköpfen beziehen sich auf Georges Bataille, der diese als »virulenteste Manifestation« des niederen Materialismus im Sinne der Gnostiker interpretierte. Marc Adrian wiederum zitiert Goethes ungeheuren Spruch »Niemand gegen Gott außer Gott selbst« und setzt ihn mit seiner Darstellung eines heidnischen Götzenbildes in einen polytheistischen Kontext. Adriana Czernins abstrakte Zeichnungen verweisen unverkennbar auf islamische Ornamentik, brechen aber gleichzeitig auch metaphorisch deren Symmetrie, während Simon Wachsmuths Video iranische Männer bei Leibesübungen zeigt, die auf ein klandestines Kampftraining zurückgehen, das über die Jahrhunderte ritualisiert und mit spirituellen Inhalten angereichert wurde.
Körperliche Rituale als Ausdruck der Bewältigung sozialer, ökonomischer und politischer Eskalationen kommen in den Arbeiten von Walther Gamerith, Isa Rosenberger und Alfred Hrdlicka zur Darstellung. So zeugt Gameriths »Tanz der Krüppel« vom Elend der Kriegsversehrten, die dem Trommelschlag des personifizierten Todes zu folgen haben; der wiederum in Rosenbergers Videoarbeit »Espiral« einen Auftritt im überzeitlichen Motiv des Totentanzes hat und in ein dichtes Gefüge von Referenzen und Kontinuitäten zur ersten Weltwirtschaftkrise verwebt ist. »Bal des victimes« von Hrdlicka wiederum verarbeitet das Phänomen der als kathartisch beschriebenen Bälle, die Überlebende der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution im Gedenken an ihre guillotinierten Angehörigen veranstaltet haben sollen. Iman Issas Installation hingegen bringt ein assoziationsreiches Gedankenspiel darüber in Gang, ob wir eine vergangene Ära des Luxus und der Dekadenz mit Melancholie oder Revolution verbinden. Und Johanna Kandls Gemälde befasst sich mit ökonomischen Randzonen und der Prekarität des Alltags in vom Turbokapitalismus gebeutelten Gesellschaften.
Natur und ihre physikalischen Gesetze stehen im inhaltlichen Zentrum eines weiteren Raumes. Als Metaphern für die Gesellschaft oder den Körper werden hier Analogien aufbereitet, aus denen Rückschlüsse gezogen und an die Betrachterinnen und Betrachter weitergereicht werden. So setzt etwa Peter Weibel etwa seinen Aufruf »Mehr Wärme unter die Menschen« buchstäblich um. Susanne Kriemann porträtiert in ihrer Arbeit einen roten Granitmonolithen und damit auch den Künstler Robert Smithson, an dessen Todesort der Stein aufgestellt wurde. Judith Fegerls Werk verbindet mittels Löten Kupferdrahtstücke zu einer fragilen Installation, die physikalische und physische Eigenschaften in Relation zueinander stellt. Und der Film »Entropie« von Michael Franz und Nadim Vardag schließlich beschreibt anhand physikalischer Gesetze eine Atmosphäre im Kulturbetrieb, in der die langsame Sinnentleerung und damit der Stillstand droht.
Einer bewussten, paradox positiven Sinnentleerung scheinen sich die Protagonistinnen und Protagonisten des »Hotel Roccalba« von Josef Dabernig hinzugeben, wenn sie kollektiv vereinzelt Tätigkeiten nachgehen und letztlich nichts geschieht. Von der Steigerung dieses Moments der Banalität, das ins Unheimliche kippt oder im Grauen des Alltags kulminiert, zeugen Arbeiten wie Markus Schinwalds lebensgroße Puppe »Betty«, die apathisch – wie fremdgesteuert – auf einem Stuhl hin und her wippt, und Samara Goldens Fotografie »Mass Murder, Blue Room«, die einen halluzinatorischen Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt sind, als potenziellen Tatort inszeniert. In Walter Pichlers Zeichnung »Schlafender« wird die Ruheposition zur existenzialistischen Handlung und mit Krankheit und Tod assoziiert, während Martin Arnolds Video »Passage à l’acte« die psychische Anspannung und latente Aggression im Idyll einer Familienszene freilegt und Tillman Kaisers irritierende Wandtapete »Habitación retorcida« die aufgeladene Beziehung zwischen Mutter und Kind räumlich übersetzt.
Diese Arbeit ist mit einer weiteren Konstellation verschränkt, in der sich alles um das Selbst dreht: Ugo Rondinones Protagonist in »Cigarettesandwich« flaniert in einem Loop eine Wand entlang – die Bewegung wird durch die Wiederholung zu einer meditativen, der Zeit enthobenen Rotation um sich selbst; Produkt einer Selbstreflexion ist auch die Zeichnung »Ich – Irgendwo da drinnen eingebettet (Oder dort draußen)« von Gerhard Rühm, in der der Künstler das Wort »Ich« mit kreisenden Gesten unzählige Male übereinandergeschrieben hat; Adriana Czernin dagegen übersetzt in ihrem Selbstporträt innere Vorgänge in ein Zusammenspiel zwischen Figuration und Abstraktion.
Selbsterfahrungen und das Erforschen der eigenen Psyche wie auch das betont antirationalistische Erschaffen individueller, surrealer Bildwelten einen eine ganze Reihe von Arbeiten. So zeigt das »Selbstbildnis« von Georg Chaimowicz den Kopf des Künstlers in Auflösung und zeugt von der existenziellen Identitätssuche nach der Shoah. Martha Jungwirths fantastisches »Käferwesen« geht aus einer Verbindung von unbewussten Gesten mit bewussten Erfahrungen hervor, während Richard Teschners »Platzregen« die Naturgewalt personifiziert und sie als monsterhaftes Wesen darstellt. Vittorio Brodmann hingegen schafft mit seinen comichaften anthropomorphen Figuren intensive visuelle Gefühlswelten, ebenso wie Gunter Damisch, dessen Komposition einem eigenen Kosmos jenseits des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses entspringt. Der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit ist hingegen Rudolf Wackers Stillleben »Zwei Köpfe« verpflichtet, das vom projektionsreichen Zusammenspiel seiner Bildelemente lebt. Henri Michaux’ écriture automatique oszilliert zwischen Malerei und Dichtung, Figur und Schrift und ist scheinbar direkt aus dem Unbewussten aufs Papier übertragen. »Umgang mit kleinen Mengen« von Tillman Kaiser regt die Fantasie eines substanzunterstützten Trips durch das All an, und Padhi Frieberger setzt mit seinem »Schweinealtar« einer fiktiven Religion ein Denkmal, während er die abgöttische Verehrung von Dingen in unserer Welt persifliert.
Bruno Gironcolis raumgreifende Skulptur »Mütterliches, Väterliches« repräsentiert wiederum ein verrätseltes Formen- und Symboluniversum, das die menschliche Existenz in Physis und Psyche zu adressieren scheint. Das Ineinandergreifen von Innen- und Außenwelt liegt auch den Arbeiten von Tobias Pils und Toni Schmale zugrunde: Pils’ genuines formales Vokabular hält seine Werke in einer Schwebe zwischen Realitätsbezug und mentaler Imagination, während sich Schmales Nitrofrottagen auf Beton in einer Destabilisierung konventioneller Deutungsmuster üben und skizzieren, wie sich Begehren in Objekte übersetzen lässt.
Mit diesem Erzählbild der Ausstellung versuchen wir, das Zusammenspiel der gezeigten Arbeiten knapp zu umreißen, im Bewusstsein, dass es vielschichtiger und komplexer, mitunter auch brüchiger ist. Es soll als Anstoß dienen für neue, subjektive Assoziationen und Narrative, die andere Fäden miteinander verknüpfen, als wir es hier tun. Als Summe ihrer Teile macht die Ausstellung das heutige Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft erfahrbar und reflektiert – ganz im Sinne der spiegelnden Fenster – zugleich Auswirkungen auf Körper und Geist.
Katalog zur Ausstellung:
Spiegelnde Fenster – Reflexionen von Welt und Selbst
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Luisa Ziaja
Mit Texten von Véronique Abpurg, Severin Dünser, Alexander Klee, Michaela Köppl, Naima Wieltschnig, Claudia Slanar und Luisa Ziaja über Arbeiten von Marc Adrian, Martin Arnold, Vittorio Brodmann, Georg Chaimowicz, Adriana Czernin, Josef Dabernig, Gunter Damisch, VALIE EXPORT, Judith Fegerl, Michael Franz / Nadim Vardag, Padhi Frieberger, Bernhard Frue, Walter Gamerith, Bruno Gironcoli, Samara Golden, Judith Hopf, Alfred Hrdlicka, Iman Issa, Martha Jungwirth, Jesper Just, Tillman Kaiser, Johanna Kandl, Joseph Kosuth, Susanne Kriemann, Friedl Kubelka/Peter Weibel, Luiza Margan, Till Megerle, Henri Michaux, Muntean Rosenblum, Walter Pichler, Tobias Pils, Arnulf Rainer, Ugo Rondinone, Isa Rosenberger, Gerhard Rühm, Markus Schinwald, Toni Schmale, Anne Schneider, Richard Teschner, Simon Wachsmuth, Rudolf Wacker und Anna Witt
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 19 × 24 cm, 136 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-36-4
- Marc Adrian
- Martin Arnold
- Vittorio Brodmann
- Georg Chaimowicz
- Adriana Czernin
- Josef Dabernig
- Gunter Damisch
- Valie Export
- Judith Fegerl
- Michael Franz
- Nadim Vardag
- Padhi Frieberger
- Bernhard Frue
- Walter Gamerith
- Bruno Gironcoli
- Samara Golden
- Judith Hopf
- Alfred Hrdlicka
- Iman Issa
- Martha Jungwirth
- Jesper Just
- Tillman Kaiser
- Johanna Kandl
- Joseph Kosuth
- Susanne Kriemann
- Friedl Kubelka
- Peter Weibel
- Luiza Margan
- Till Megerle
- Henri Michaux
- Muntean Rosenblum
- Walter Pichler
- Tobias Pils
- Arnulf Rainer
- Ugo Rondinone
- Isa Rosenberger
- Gerhard Rühm
- Markus Schinwald
- Toni Schmale
- Anne Schneider
- Richard Teschner
- Simon Wachsmuth
- Rudolf Wacker
- Anna Witt
Erwin Wurm – »Performative Skulpturen«
kuratiert von Severin Dünser und Alfred Weidinger
21er Haus, Wien
2. Juni – 10. September 2017
Befreiungsschläge im Nebel der Bildhauerei
Zu Erwin Wurms „Performativen Skulpturen“
„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie? Darüber denke ich seit Jahrzehnten nach“1, meint Erwin Wurm zu seiner Praxis. Und tatsächlich ist er seit über 35 Jahren auf einer künstlerischen Odyssee mit dem Ziel, den klassischen Skulpturbegriff zu erweitern.
Angefangen hat alles mit Skulpturen aus Holzlatten, die Erwin Wurm zu Beginn der 1980er-Jahre zu Figuren zusammengenagelt hat. Zusätzlich hat er sie bunt bemalt, ähnlich dem Stil der „Neuen Wilden“, die damals ihr Unwesen trieben. Klassifiziert als „Neue Skulptur“, waren die Arbeiten dem entgegengesetzt, das damals angesagt war, wie etwa minimalistische oder konzeptuelle Kunst. Bald wurden auch diese Gesten zum Teil des Kanons, und Wurm wollte sich aus seiner Assoziation mit der „Neuen Skulptur“ wieder befreien. In Opposition zu seinem bisherigen Schaffen versuchte er also das Pathos und die Schwere der Kunst zu überwinden.2 Er ließ das Erhabene hinter sich und suchte sich ein neues Werkzeug, um den Zugang zu seiner Kunst neu zu definieren. Was er fand, war das Paradoxe.
Ende der 1980er-Jahre begann Wurm Kleidungsstücke als Ausgangsmaterial für seine Skulpturen zu verwenden. Er stülpte Jacken, Hosen, Hemden und dergleichen über Kuben und Zylinder. Die Arbeiten leben von ihrem Bezug zum menschlichen Körper im Kontrast zur Verfremdung durch das Aufzwingen einer geometrischen Form. 1990 entwickelt er daraus die „Hanging Pullovers“, die nicht mehr an ein Objekt gebunden sind, sondern wie Bilder an der Wand hängen, dabei aber durch spezifische Faltung einen skulpturalen Charakter erhalten. Umgekehrt werden Kleidungsstücke auch zusammengelegt und so in Boxen platziert. Zu diesen Werken entstehen das erste Mal auch Anleitungen, die mit Zeichnungen und Anmerkungen das Falten für die Betrachterinnen und Betrachter nachvollziehbar machen. Wurm hat in diesen Kleidungs-Werken einerseits die klassischen Methoden der Bildhauerei angedeutet, während er einen Gebrauchsgegenstand zum Kunstwerk macht, indem er ihn seiner Funktion beraubt. Gleichzeitig verlagert er den Fokus weg vom Objekt an sich, hin zum skulpturalen Prozess des Schaffens, den er zudem auch noch potentiell auf die Rezipientinnen und Rezipienten überträgt.
In dem Video „Still I“ von 1990 ist dann ein Mann zu sehen, der bewegungslos dasteht. Er hat eine Schüssel über seinen Kopf gestülpt, wodurch seine Mimik verdeckt wird. Das Video ist geloopt, wodurch ein statischer Eindruck erweckt wird, der dem Medium selbst entgegenläuft. Wurm hat hier erstmals einen Menschen zur Skulptur gemacht, die über eine der Bildhauerei fremde Technik vermittelt wird – etwas das bald charakteristisch wird für seinen Umgang mit Skulptur.
1990 kamen auch die Staubskulpturen ans Licht der Öffentlichkeit. Sie bestehen aus weißen Sockeln auf deren Oberkante Staub liegt. Allerdings nicht überall, denn manche Flächen sind ausgespart, als ob dort etwas lange gestanden wäre, das nun verschwunden ist. Normalerweise sind das Skulpturen, die auf solchen Sockeln in Ausstellungsräumen platziert werden. Wurm hat sie mit den Staubskulpturen verschwinden lassen, beziehungsweise an einen anderen Ort gebracht: In unseren Kopf, wo sie ob ihrer Immaterialität imaginiert werden müssen. Thematisiert wird hier Zeitlichkeit als potentielle skulpturale Qualität, die sich recht buchstäblich über den Staub ausdrückt. Zudem führt Wurm das Prinzip der Reproduzierbarkeit in sein Schaffen ein – die Staubskulpturen können nämlich nach genauen Vorgaben auch von Dritten erneut angefertigt werden – und er entzieht sie damit der Vergänglichkeit, während er mit staubtrockenem Humor den Ausstellungsbetrieb persifliert.
In „Fabio zieht sich an“ von 1992 nimmt ein Mann nach und nach alle Kleidungsstücke von einem Kleiderständer und streift sie sich über. Als unförmige, aufgequollene Figur verlässt er dann den Bildausschnitt. In der Arbeit verbindet Wurm Kleidung als Ausgangsmaterial mit einem Akteur, der eine zeitlich begrenzte skulpturale Handlung durchführt. Das Anziehen von Kleidung wird überhöht und zu einer Metapher für die Bildhauerei, also den Umgang mit Volumen, der den abstrakten Schaffensprozess auf etwas alltägliches herunterbricht und ihm eine gesellschaftliche Bedeutungsebene einschreibt.
Im selben Jahr entsteht auch das Video „59 Stellungen“, in dem Kleidungsstücke auf 59 verschiedene Arten über Körper in bestimmten Haltungen und Verrenkungen gestülpt wurden. Wie bei „Still I“ verharren die Körper im Video in ihrer Position und bewegen sich nur unmerklich. „Da sind zum ersten Mal Begriffe wie Lächerlichkeit und Peinlichkeit dazugekommen. Normalerweise möchte man tolle, ernsthafte Kunst machen. Ich habe aber gemerkt, dass das Lächerliche, Peinliche und Hinfällige wesentliche Zustände von uns sind, die mich mehr interessieren.“3
Von hier aus war der Schritt dann nicht mehr weit zu den „One Minute Sculptures“, die ab 1997 entstehen. Ausgehend von Wurms Handlungsanweisungen werden bei diesen Werken die Betrachterinnen und Betrachter eingeladen, selbst für eine Minute eine Skulptur zu sein. Dabei werden in Interaktion mit Objekten Haltungen angenommen, die durch die Verbindung mit den Anmerkungen des Künstlers inhaltlich aufgeladen werden. Die simplen Anordnungen gehen einher mit oft komplexen Fragestellungen oder Denkaufgaben: Etwa über Montaigne nachzudenken (während man einen Filzstift mit dem Kopf gegen die Wand drückt), die Masse eines Stückes Holz zu schätzen (auf dem man gerade liegt) oder über die eigene Verdauung zu reflektieren (während man liegend eine Toilettenreinigungsflasche auf dem Kopf balanciert). Es können aber auch einfachere Anweisungen sein wie ein Hund zu sein, eine Wurst zu essen, den Pullover über den Kopf zu ziehen um ein Terrorist zu sein, beziehungsweise überhaupt Aufforderungen abstrakte Themengebiete als eine Art Denkmal darzustellen, wie etwa die Theorie der Arbeit, die Organisation der Liebe, die Theorie der Malerei oder den Spekulativen Realisten. Paradoxes und eine gewisse Lächerlichkeit sind bei den „One Minute Sculptures“ zum integralen Bestandteil der Arbeit geworden. Die Einbeziehung der Betrachterinnen und Betrachter, die das Werk innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens ausführen (und das auch immer wieder), das Verwenden von Alltagsgegenständen, als auch das Festhalten der skulpturalen Handlungen in Video und Fotografie waren schon Elemente früherer Arbeiten und wurden von Erwin Wurm in den „One Minute Sculptures“ zusammengeführt.
Darauf folgten Fotoserien wie „Instructions for Idleness“ (2001) und „Instructions on how to be politically incorrect“ (2002), also Anweisungen zum Müßiggang beziehungsweise zum politisch inkorrekten Agieren, die das gesellschaftskritische Moment in Wurms Œuvre wieder stärker machten. Zeitgleich entstand das „Fat Car“ (2001), ein „lebensgroßes“ Auto, das aufgedunsen ist und ein paar Rundungen zu viel hat, um noch einem Schönheitsideal zu entsprechen. Das „Fat House“ folgt dem gleichen Prinzip - es ist einfach übergewichtig und quillt an den Seiten über. Der Künstler nimmt hier wieder das Grundprinzip der Bildhauerei, nämlich das Hinzufügen von Volumen, als Ausgangspunkt. Das menschliche Äquivalent, das Sich-Anfüttern und Dick-Werden, überträgt er dann aus dem Alltag zurück in die Welt der Bildhauerei. Die adipösen Statussymbole des Wohlstands stehen stellvertretend für die Übergewichtigkeit in der Gesellschaft und die Ursachen die dahinterstehen, wie Konsumsucht und Überproduktion. Sie sind sozusagen Vanitas-Motive, Sinnbilder der Vergänglichkeit.
Dem „Narrow House“ von 2010 dagegen hat Wurm keine menschlichen Eigenschaften zukommen lassen, geschweige denn menschliche Proportionen. Es ist nicht aufgebläht, sondern zusammengestaucht worden. Es ist ein Nachbau seines Elternhauses in Originalgröße – allerdings in der Breite auf 1,1 Meter geschrumpft. Als prototypischer Bau der 1960er Jahre in Österreich symbolisiert es den viel realisierten Traum des Eigenheims und das damit verbundene Gefühl der Enge, das sich im kleinbürgerlichen, biederen und entindividualisierten Lebensraum manifestiert. Noch einen Schritt weiter in Richtung innerer Befindlichkeiten geht der Künstler schließlich mit der Serie der „Bad Thoughts“ von 2016. Diese unförmige Klumpen von Material in zugeknoteten Müllsäcken verweigern sich einer ironischen Lesart. Die schwarze Oberfläche verhüllt den Blick auf die darunterliegenden Objekte, nur die amorphen Ausformungen lassen Rückschlüsse auf ihr Inneres zu. In ihrer Materialität als Bronzegüsse suggerieren sie eine Schwere, die zusammen mit dem Titel an dunkle Gemütszustände denken lässt. Ähnlich suggestiv-introspektiv funktioniert auch ein Werkblock, an dem Wurm seit 2011 wieder verstärkt gearbeitet hat: die „Performativen Skulpturen“.
Zu ihnen gehören auch die zuvor genannten „Hanging Pullovers“ von 1990 als auch „Pillow“ von 1992. Dieses Kissen kann man nach gezeichneten Anweisungen „bearbeiten“ und „zu einem Gesicht“, „Huhn“, „Hals“, „Arsch“ oder „einem Hockenden machen“. Fortgesetzt hat Wurm den Werkblock ab 2012 mit „House Attack“. Dabei handelt es sich um Modelle von europäischen und amerikanischen Häusern, teils bekannten Gebäuden oder von berühmten Architekten, teils anonymen Bauten zu denen Wurm einen persönlichen Bezug hat. Die Modelle hat der Künstler zunächst aus Ton geformt und bevor sie abgegossen wurden noch einer weiteren Bearbeitung unterzogen: Er hat sie attackiert, und das auf alle möglichen Arten und Weisen. Mal schlägt er auf ein Modell ein oder setzt sich darauf, ein anderes Mal quetscht er es. So legt er sich etwa auf sein Elternhaus und deformiert es durch sein Körpergewicht, springt auf den Narrenturm, fügt der Haftanstalt St. Quentin Schnittwunden zu, gräbt ein Loch ins Hochsicherheitsgefängnis Stammheim, oder tritt gegen eine deutsche Bunkerarchitektur. Es werden also bestimmte Häusertypen malträtiert, denen eine verhaltenskorrigierende Funktion eingeschrieben ist. Die Zerstörung der geschlossenen Form und damit der Hülle, die das Leben in normierter Ordnung hält, wird zur Rebellion gegen Angepasstheit und Regulierung. Für „Abstract Attack“ (2013) lässt er dagegen Würste auf die Häuser los. Die Wurst, das ist genauso ein Symbol der westlichen Konsumkultur. Und sie sind eine Abstraktion von Nahrung, ist doch kaum mehr erkennbar aus was ihre Füllung besteht. Diese Analogie beschert der Skulpturenreihe den Titel „Abstract Attack“ und ironisiert gleichsam die fast schon modernistische Strenge von „House Attack“.
Ab 2015 erweitert sich der Werkblock der „Performativen Skulpturen“ um zwei weitere Untergruppen: „Furnitures“ und „Objects“. Bei den „Furnitures“ fokussiert Erwin Wurm auf Einrichtungsgegenstände wie ein Sofa, einen Sessel, eine Liege, eine Kommode oder einen Kühlschrank. „Objects“ beinhaltet Dinge wie einen Seifenspender, eine Wanduhr, ein Mobiltelefon, ein Maßband oder eine Pistole. Auch hier geht er nach dem gleichen Prinzip vor, das er schon bei „House Attack“ angewendet hat. Er fertigt Modelle aus Ton an, die im Fall der „Objects“ durchaus auch einmal die Größe des Originals überschreiten. Dann findet er Wege, den Modellen gegenüber handgreiflich zu werden – oder sie gleich mit dem Auto zu überfahren. Am Ende überführt er sie dann häufig noch in andere Materialien, indem er die geschundenen Modelle in Bronze, Aluminium, Eisen oder Kunstharz abgießt und mit Farbe überzieht beziehungsweise patiniert.
Eine letzte Untergruppe komplettiert die „Performativen Skulpturen“. Die Werke von „Beat and Treat“ entstehen ab 2011, einen Vorläufer gibt es schon 1995. Im Gegensatz zu den anderen „Performativen Skulpturen“ haben sie allerdings nichts Mimetisches an sich. Sie beruhen nicht auf Häusern oder Gegenständen. Ihr Ausgangspunkt ist das Material in seiner industriellen Rohform: der Tonblock. Und den bearbeitet der Künstler wieder mit seiner ganzen Körperkraft. Wie der Serientitel schon sagt, „schlägt und behandelt“ er den Ton, tobt sich an ihm aus bis das Werk getan ist. Es wundert nicht, dass er diese Arbeiten auch schon mit „Zornskulpturen“ betitelt hat.
Bei den „Performativen Skulpturen“ scheint der Künstler seiner Aggression freien Lauf gelassen zu haben, beziehungsweise hat er das Wut-an-etwas-auslassen dargestellt. Wie schon in früheren Werken nimmt er Anleihe beim Alltag, wenn er solche Zornausbrüche in skulpturale Schaffensprozesse überträgt. Er überspitzt so das Prinzip der bildhauerischen Geste und persifliert sie. Auch das Lächerliche und Peinliche ist in den Arbeiten angedeutet – passiert es doch eher im Verborgenen, wenn man die Fassung verliert und Dinge zerstört, um angestauten Ärger abzubauen. Falls es doch in der Öffentlichkeit passiert, ist es als Betrachter zum fremdschämen.
Erwin Wurm emotionalisiert hier also das bildhauerische Schaffen. Gleichzeitig psychologisiert er den Blick der Betrachterinnen und Betrachter. Die Objekte werden mit den Augen auf Spuren untersucht und es wird versucht Rückschlüsse zu ziehen auf die inneren Motive des Künstlers, seine Abgründe und die Verfasstheit zum Zeitpunkt der jeweiligen skulpturalen Handlung.
Und es ist Erwin Wurm wichtig, wieder selbst Hand anzulegen: „Mir ist aufgefallen, dass viele Künstler fast nichts mehr selbst machen und ihre Werke stattdessen von anderen produzieren lassen. Das trifft auch auf mich zu. Es irritiert mich, weil ich den Kontakt mit meinem Werk verloren habe, sozusagen. Und deshalb versuche ich diesen Kontakt wiederherzustellen indem ich alles selbst mache, oder zumindest den Großteil.“4 Nun könnte man meinen, dass Wurm ja ohnehin viele seiner Werke von anderen ausführen lässt, etwa die „One Minute Sculptures“, und dass dies ja wesentlicher Bestandteil seines Œuvres sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein Großteil der Entwicklung neuer Ideen beim manuellen Experimentieren passieren – eine Erfahrung die durch abstraktes Planen nicht wettgemacht werden kann, und für das Fortschreiben eines Gesamtwerks unabdingbar ist. Zudem hat Erwin Wurm seine Rolle als Autor nie abgegeben: Auch wenn Besucher seine Skulpturen ausführen können, bleibt die Autorschaft über das Werk beim Künstler.
Seine „Performativen Skulpturen“ sind nicht nur aufgeladen mit Emotion, sie sind auch aufgeladen mit Autorschaft. Sie wird in seinem Werkblock geradezu überzeichnet. Und als Ausdruck dieser Autorschaft kann man die vielen Einwirkungen des Künstlerkörpers auf das Material durchaus als Gesten lesen. Diese Gesten transportieren die Aura des Einmaligen, stellen sie aber in ihrer Reproduzierbarkeit durch Abgießen gleichsam in Frage. Die Unmittelbarkeit der Gesten unterstützt allerdings das Aufrechterhalten einer Authentizität des Ausdrucks. Ähnlich wie bei der gestischen Malerei des Informel, geht es hier um die Nachvollziehbarkeit eines gestischen Impulses, um die auf das Material übertragene Energie. Das Hervorheben des Schaffensprozesses geht einher mit allen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des scheinbar Unbewussten.
Durch die Überzeichnung können die Gesten bei Erwin Wurm jedenfalls als kritische Anspielungen auf den damit verbundenen Künstlermythos gelesen werden, wenngleich der Künstler selbst uns über den Status seiner Handlungen im Unklaren lässt. Trotzdem erhält der gestische Ausdruck heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas erfrischend Körperliches entgegenhalten.
Was von den „Performativen Skulpturen“ vor allem als Eindruck zurückbleibt, ist die Betonung des Schaffensprozesses, mit dem er die physischen Objekten in diesem Werkblock fast buchstäblich kollidieren lässt. Die Moral von der Geschichte? Dinge sind vergänglich, Handeln dagegen macht ein selbstbestimmtes Leben möglich. Kritische Reflexion des eigenen Tuns im Kontext der Gesellschaft also, um vom Subjekt nicht selbst zum Objekt zu werden. Aber wie Erwin Wurm einmal gesagt hat: „Mein Werk handelt vom Drama der Belanglosigkeit der Existenz. Ob man sich ihr durch Philosophie oder durch eine Diät nähert, am Ende zieht man immer den Kürzeren.“
1 Erwin Wurm im Interview mit Tobias Haberl, „Gott sei dank gibt es noch die dunkle Seite“, Sueddeutsche Zeitung Magazin, 18. November 2016, Nr. 46, S. 25, München, Deutschland
2 Vgl. Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 50, New York, USA
3 Erwin Wurm im Interview mit Brigitte Neider-Olufs, "Die Welt wird zunehmend breiter", Wiener Zeitung, 15.10.2010, Wien, Österreich
4 “I have come to realize how much contemporary art suffers, or has suffered, from the fact that artists’ studios have been transformed into manufacturing workshops. I have noticed that many artists do almost nothing at all themselves, but rather let their works be produced by others. That really strikes me. It irritates me because I have lost contact with my work, so to speak. And so I am trying to get that contact back again by creating everything myself, or at least for the most part by myself.” – Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 51, New York, USA
Katalog zur Ausstellung:
Erwin Wurm – Performative Skulpturen
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Alfred Weidinger
Mit Texten von Severin Dünser und Stella Rollig sowie einem Interview zwischen Erwin Wurm und Alfred Weidinger
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Hardcover, 29 x 22,5 cm, 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe und s/w
Verlag für moderne Kunst, Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-40-1
»Das Begreifen«
Heinrich Dunst, VALIE EXPORT, Franziska Kabisch, Barbara Kapusta, Peter Weibel, Tina Schulz, Javier Téllez
21er Raum im 21er Haus, Wien
30. November 2016 — 22. Jänner 2017
Der Ausdruck „Begreifen“ bezeichnet den Prozess des geistigen Erfassens und wird als Synonym für „Verstehen“ verwendet. Etymologisch lässt es sich von der physisch-haptischen Tätigkeit des Abtastens herleiten – ähnlich dem Begriff „Konzept“, der vom lateinischen „concipere“ abstammt, das wörtlich übersetzt Zusammenfassen bedeutet. Die Ausstellung versucht dem nachzugehen, was in den Begriffen zusammenläuft: manuelle Handlung und intellektuelle Rezeption.
Peter Weibel etwa fragt mit „Das Wort Hand mit der Hand schreiben“ nach der Beweisbarkeit der Existenz von Dingen, Vorgängen und Verhältnissen – und zuallererst von der Hand. Das kommt nicht von ungefähr, wird die Hand doch schon in frühen Kindestagen genutzt, um sich der äußeren Realität zu versichern. In der Bibel etwa wird der ungläubige Thomas mit den Worten zitiert „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“1 Der Philosoph Helmuth Plessner beschreibt unsere Wahrnehmung als „Auge-Hand-Feld“, das dem Menschen mit dem Erlernen des aufrechten Gangs zur Eigenheit wurde: „Das Auge führt die Hand, die Hand bestätigt das Auge“2 Dieses Sehen mit der Hand und die Erfahrung daraus steht auch im Zentrum von Barbara
Kapustas „Soft Rope“. In einem Video ist ein Seil zu sehen, das die Künstlerin mit ihrer Hand erkundet, während sie ihren Eindruck des Vorgangs mit einem Gedicht umreißt. Auch in Javier Téllez’ Film „Der Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (zu sehen im Blickle Kino im Erdgeschoss) geht es um taktile Wahrnehmung. Angelehnt an eine indische Parabel ertasten darin sechs blinde Frauen und Männer einen Elefanten. Alle haben eine unterschiedliche Erfahrung des Tieres, dem sie gegenüberstehen, und ihre Interpretationen decken sich nicht – die subjektiven Wahrnehmungen führen zu keiner objektiven Wahrheit.
Die Hand ist allerdings nicht nur ein Instrument zum Ertasten, sondern auch zum Formen. Richard Serra schuf 1968 den Film „Hand catching lead“. Darin ist eine Hand zu sehen, die versucht Bleistücke zu fangen und dabei zu verformen, bevor sie sie wieder fallen lässt. In Serras Film wird dieselbe Geste repetitiv wiederholt, und es gibt keine geglückten oder misslungenen Produkte die zu erkennen sind. Stattdessen wird auf den Prozess des Machens fokussiert, der Film wird zu einer Metapher für die Bildhauerei selbst. Tina Schulz eignet sich die Gesten des Films an und wiederholt sie – allerdings ohne das Blei. Was übrig bleibt sind die scheinbar ziellosen Bewegungen der Hand, die nur im Vergleich mit dem Originalfilm Sinn ergeben und durch die Reduktion überhöht werden.
Die Hand ist, als Objekt gesehen, ausführender Stellvertreter des Subjekts – im Speziellen wenn das Ich ein Künstler ist, wie etwa Heinrich Dunst. Bei ihm „handelt“ die Hand nicht wie bei Schulz, sondern sie wird angesprochen. „Hello Hand“ sagt Dunst zur Hand, die er wie ein Exponat auf einem Tisch platziert hat. In einem Monolog, den er gleichermaßen an die Hand, den Betrachter und sich selbst richtet, spricht er seinen Körperteilen Funktionen zu, die sie eigentlich nicht primär innehaben. Er beschreibt eine Verhältnisstruktur, die bei der Wahrnehmung anfängt und mit der Kommunikation endet – als Metapher für das Handeln, das das Denken mit der körperlichen Existenz in Balance hält.3
Martin Heidegger schrieb dazu: „Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein. Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. […] Allein das Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche Hand-Werk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt.“4
Und auch VALIE EXPORT bezieht sich in ihrem Video „Sehtext: Fingergedicht“ auf Heidegger, den sie mit „Ich sage die Zeige mit den Zeichen im Zeigen der Sage“ frei zitiert. Sie führt den Satz mit ihren Fingern in „visueller Zeichensprache“ aus, kommuniziert mit Händen (ohne Füsse). „Der Körper kann also dazu benützt werden, sowohl geistige wie körperliche Inhalte mitzuteilen. Der Körper als Informationsträger. Der Mensch ist durch den Körper in die soziale Struktur eingepasst“, führt sie zur Intention ihres Videos aus. Und um die soziale Kommunikation rund um die Hände geht es auch in Franziska Kabischs „Deklinationen (Can I inherit my dead parents’ debts?)“. Ausgehend von den an vielen Universitäten bestehenden Professorengalerien wird darüber nachgedacht, wie sich Wissensproduktion und wissenschaftliche Normen in Haltungen – insbesondere der Hände – manifestieren, wie sie übernommen und fortgesetzt werden. Aus dem universitären Kontext einer Vorlesung stammt auch dieses abschließende Zitat von Martin Heidegger: „Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein mochte.“4
1 Evangelium nach Johannes, 20,25
2 Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“ (1970), Suhrkamp, 2003
3 „ich denk’ und vergleiche, sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand“ – Johann Wolfgang von Goethe, „Römische Elegien“ (1788–1790)
4 Martin Heidegger, „Was heißt Denken?“ (1951–1952), Max Niemeyer Verlag, 1954
»Instructions for Happiness«
Mit Arbeiten von Anna Sophie Berger, Liudvikas Buklys, Heinrich Dunst, Simon Dybbroe Møller, Christian Falsnaes, Benjamin Hirte, Barbara Kapusta, Stelios Karamanolis, Alexandra Kostakis, Adriana Lara, Lara Nasser, Rallou Panagiotou, Natasha Papadopoulou, Angelo Plessas, Maruša Sagadin, Hans Schabus, Björn Segschneider, Socratis Socratous, Misha Stroj, Stefania Strouza, Jannis Varelas, Kostis Velonis und Salvatore Viviano; kuratiert von Severin Dünser und Olympia Tzortzi
Lekka 23 – 25 & Perikleous 34, Athen
21. — 30. Dezember 2016
Glücklichsein kann als menschliches Grundbedürfnis verstanden werden. Und um das persönliche Streben nach Glück geht es in dieser Ausstellung. Aber Anleitungen zum Glücklichsein? Da Glücklichsein eine sehr individuelle Angelegenheit ist, sind Anleitungen um dem Glück näher zu kommen natürlich eine recht absurde Versprechung. Unabhängig davon, ob das Glück im Zwischenmenschlichen, Unmittelbaren oder Alltäglichen bzw. in der Schönheit der kleinen Dinge im Leben gesucht wird, versucht die Ausstellung die Vorstellungen von Glück zu hinterfragen.
Eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern wurde eingeladen, eine Arbeit zur Ausstellung beizutragen. Die Anfrage war, ein Werk zu konzipieren, das ausgehend von einer Handlungsanweisung dazu auffordert etwas zu tun, also z.B. Gegenstände zu benutzen, auf hergestellte Situationen zu reagieren, mit anderen nach gewissen Regeln zu interagieren, für andere bzw. sich selbst zu performen oder auch einfach nur Denkprozesse zum Thema anzustoßen. Die Form für das Werk wurde dabei offen gelassen – und so sind die Arbeiten in der Ausstellung auch so unterschiedlich und formal divergent geworden wie die medialen Möglichkeiten. Aber die scheinbar chaotische Verschiedenheit spiegelt eben auch die Vielfalt der Perspektiven wider, die die Künstler (wie auch die Gesellschaft) auf das Glücklichsein haben.
Abgesehen von der Frage nach dem Glücklichsein im Kontext von Athen, versucht die Ausstellung auch darüber zu reflektieren, welche Möglichkeiten unmittelbarer Auswirkungen die Kunst auf die Gesellschaft haben kann. Es kann durchaus hinterfragt werden, wo die Grenzen der Kraft des ästhetischen Felds liegen, während man beim Erleben der Werke den Vorstellungen vom Glück nachgehen kann um vielleicht auch Antworten für sich selbst zu finden.
Mit freundlicher Unterstützung durch das Bundeskanzleramt Österreich, NON SPACES und KUP
-
»Instructions for Happiness«
Συμμετέχουν: Anna Sophie Berger, Liudvikas Buklys, Heinrich Dunst, Simon Dybbroe Møller, Christian Falsnaes, Benjamin Hirte, Barbara Kapusta, Stelios Karamanolis, Alexandra Kostakis, Adriana Lara, Lara Nasser, Rallou Panagiotou, Natasha Papadopoulou, Angelo Plessas, Maruša Sagadin, Hans Schabus, Björn Segschneider, Socratis Socratous, Misha Stroj, Stefania Strouza, Jannis Varelas, Kostis Velonis, Salvatore Viviano
Υπό την επιμέλεια: Severin Dünser, Olympia Tzortzi
Λέκκα 23 – 25 & Περικλέους 34, Αθήνα
21.12. — 30.12.2016
Η ευτυχία μπορεί να κατανοηθεί ως μια από τις βασικές ανάγκες του ανθρώπου. Ο Freud έλεγε ότι σκοπός της ζωής είναι η επίτευξη και η διατήρηση της ευτυχίας – και στην αναζήτησή της επιδίδεται η έκθεση με τίτλο «Instructions for Happiness». Αλλά είναι δυνατό να υφίστανται οδηγίες;
Μια σειρά από Έλληνες και διεθνείς καλλιτέχνες έχουν κληθεί να καταθέσουν την δική τους εικαστική απάντηση σχετικά με την κατάκτηση της ευτυχίας η οποία, στον βαθμό ασφαλώς που είναι για τον καθένα υποκειμενική, δεν μπορεί παρά να καθορίζει και τις «απαντήσεις» ως αυστηρά προσωπικές. Υπό αυτήν την οπτική, όλα τα εκθέματα απηχούν διαφορετικές προσεγγίσεις ως προς την μορφή αλλά και ως προς τους «κανόνες» που θα πρέπει κανείς να εφαρμόσει (ή και να απορρίψει) προκειμένου να εκπληρώσει, έστω και πρόσκαιρα, το πολυπόθητο αποτέλεσμα και, πάντως, όλα αυτοσκηνοθετούνται ως «οδηγίες προς απόκτηση ευτυχίας». Συγχρόνως, όμως, τα έργα δεν λησμονούν ότι η ευτυχία είναι ατομική υπόθεση, ότι ουσιαστικά κάθε υπόδειξη πραγμάτωσής της συνιστά ανεδαφική ή ουτοπική υπόσχεση. Εντούτοις δεν παραιτούνται. Κι έτσι καταφέρουν να στρέψουν την προσοχή στα μικρά αντικείμενα της ζωής και να αναδείξουν, με απρόσμενο τρόπο, την ομορφιά τους (ιδού μια στιγμή ευτυχίας!) – ή εφιστούν τη προσοχή στην «ευτυχή συγκυρία» ή και στην ευδαιμονία που μπορεί, φέρ’ ειπείν, να πηγάζει από άγνοια ή παραγνώριση της πραγματικότητας ή και από τη ζωηρή φαντασία ακόμη.
Προπάντων, όλα τα έργα της έκθεσης αμφισβητούν τις παγιωμένες αντιλήψεις για το τι είναι ευτυχία και θέτουν το ερώτημα του κατά πόσο η ίδια η τέχνη μπορεί να αποβεί «πρόξενος ευτυχίας», όχι απλώς ωραιοποιώντας αλλά ενεργά μεταμορφώνοντας τον γύρω μας κόσμο. Και εντέλει θέτουν το ερώτημα των ερωτημάτων: μήπως η ευτυχία προϋποθέτει πάντοτε την ευτυχία του άλλου, δηλαδή, θα πρέπει επιτακτικά να εννοηθεί σε ένα πολιτικό πλαίσιο;
- Athen
- Anna Sophie Berger
- Liudvikas Buklys
- Heinrich Dunst
- Simon Dybbroe Møller
- Christian Falsnaes
- Benjamin Hirte
- Barbara Kapusta
- Stelios Karamanolis
- Alexandra Kostakis
- Adriana Lara
- Lara Nasser
- Rallou Panagiotou
- Natasha Papadopoulou
- Angelo Plessas
- Maruša Sagadin
- Hans Schabus
- Björn Segschneider
- Socratis Socratous
- Misha Stroj
- Stefania Strouza
- Jannis Varelas
- Kostis Velonis
- Salvatore Viviano
- Olympia Tzortzi
»Das Gestische«
Thomas Bayrle, Andy Boot, Christian Falsnaes, Roy Lichtenstein, Klaus Mosettig, Laura Owens, Markus Prachensky, Roman Signer
21er Raum im 21er Haus, Wien
8. September — 20. November 2016
Malerei ist das Auftragen von Farbe auf eine Fläche. Pinselstriche sind die Elemente, aus denen sich ein Bild ergibt. Und um diese Einzelteile, aus denen sich über den Prozess des Malens etwas zusammensetzt, dreht sich diese Ausstellung.
Ausgehend von einer aktuellen Schenkung an das Belvedere – der Malerei Rouges différents sur noir – Liechtenstein von Markus Prachensky – werden Aspekte rund um den Duktus und das Wesen des Gestischen diskutiert. Prachensky hat das Bild 1956/57 geschaffen. Es ist nach der Liechtensteinstraße benannt, wo es in einem gemeinsam mit Wolfgang Hollegha genutzten Atelier entstanden ist (im Übrigen war das auch der Ort, an dem die beiden 1956 gemeinsam mit Josef Mikl und Arnulf Rainer die Gründung der Künstlergruppe „Galerie St. Stephan“ beschlossen). Das Gemälde stammt aus einer ersten Serie von Bildern, in der Prachensky mit roter Farbe auf schwarzem Grund malte – wobei die Farbe Rot zu einem wiederkehrenden Element und zu so etwas wie einem Charakteristikum in folgenden Arbeiten wurde. Das Werk Prachenskys ist ganz dem Informel verpflichtet. Das Informel, das sich Ende der 1940er-Jahre von Paris ausgehend seinen Weg nach Wien bahnte, entwickelte sich als Reaktion auf die geometrische Abstraktion. Mit ihr teilte es eine Ablehnung klassischer Kompositionskonzepte, aber forderte im Gegensatz Formlosigkeit und Spontaneität. So geht es Prachensky vordergründig um das Nachvollziehen eines gestischen Impulses, um die auf die Leinwand übertragene Energie.
Was Prachensky in seinem Bild hervorhebt, ist also das prozessuale Moment in der Bildproduktion –mit all seinen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des Unbewussten. Diese Gesten sind auf dem monochromen Hintergrund klar nachvollziehbar und treten zu diesem in einen starken Kontrast. Sie werden durch ihre Isolation auch selbst zu einem Zeichen, zu einem wiedererkennbaren Symbol der Geste. Ebendieses Zeichen greift Roy Lichtenstein in der Serie der Brushstrokes auf, die zwischen 1965 und 1968 entstanden ist. Darin setzt Lichtenstein einzelne und einander überlagernde Pinselstriche im für ihn typischen Comic-Stil um – ironischerweise mit Öl auf Leinwand, während er auf den Abstrakten Expressionismus Bezug nehmend das spontane Moment gewissermaßen karikiert. Im Fall von Little Big Painting Reproduction wurde die Edition auch noch in eine Chromografie übersetzt. Die industrielle Vervielfältigung führt die Einzigartigkeit von Malerei und persönlichem Ausdruck zusätzlich ad absurdum.
Thomas Bayrle arbeitet mit Reproduktionen und Wiederholungen von Formen, die sich häufig – ähnlich der Pop Art – auf Objekte aus der Konsumkultur beziehen und durchaus gesellschaftskritisch gelesen werden können. Einzelne Bildelemente werden bei ihm durch mechanische und digitale Manipulation verzerrt. Aus ihnen ergeben sich systematische Strukturen, die oft ihre Bestandteile widerspiegeln und so auf die dahinterliegende Logik des Bildermachens verweisen. Für Variationen eines Pinselstrichs hat Bayrle 1989 den Pinselstrich als Ausgangsmotiv genommen. Er hat ihn in unterschiedlichen Verformungen zu einer die Bildfläche füllenden Collage arrangiert, die als Metamalerei die Authentizität des Ausdrucks durch dessen mechanische Wiederholung infrage stellt.
Klaus Mosettig übersetzt seit 2007 Arbeiten anderer Künstler in Zeichnungen. Dafür projiziert er die Werke auf Papier und zeichnet sie in monatelanger Kleinarbeit in unterschiedlichen Grautönen nach, wie man sie aus Druckverfahren kennt. Trotz des aufwendigen Prozesses per Hand hinterlässt Mosettig keine ihm zuordenbare Handschrift. Und dennoch entwickeln seine Arbeiten eine künstlerische Autonomie vom Original. Das hängt auch mit der Zeit zusammen, die er in seine Werke investiert und die bei genauer Betrachtung nachvollziehbar wird. Die Vorlage für Informel 2 war eine Kinderzeichnung. In Analogie zur im Werktitel genannten Kunstrichtung handelt es sich bei der Kinderzeichnung um den Versuch eines unmittelbaren Ausdrucks, um das experimentelle Finden einer persönlichen Bildsprache. Die Rezeption dieser kleinen Geste verändert Mosettig, indem er sie sich aneignet, mit dem Bleistift kopiert und vergrößert.
Roman Signer ist für seine Aktionen bekannt, versteht sich aber als Bildhauer, der Faktoren wie Zeitlichkeit, Beschleunigung und transformative Prozesse auf seine Arbeiten einwirken lässt. Feuerwerkskörper etwa sind ein wiederkehrendes Element in seinem Œuvre, so auch in dem Video Punkt von 2006. Signer nimmt darin vor einer auf einer Wiese aufgestellten Staffelei Platz, taucht einen Pinsel in Farbe und hält ihn vor die Leinwand. Hinter ihm explodiert kurz darauf eine Box – der Künstler erschrickt und setzt dadurch einen Punkt auf die Malfläche. Signers Ergebnis einer gezielten Schreckreaktion entspricht fast buchstäblich der auf die Leinwand übertragenen Energie, wie sie im Informel zur Geltung kommt. Nur dass Signer den Prozess des gestischen Malens überzeichnet, um zu einem für ihn authentischen Ausdruck zu finden.
Andy Boot hat sich schon in früheren Arbeiten mit expressiver Gestik auseinandergesetzt: etwa in der Arbeit e who remained was M, die sich in der Sammlung des Belvedere befindet. Boot lässt in Farbe getauchte Nudeln auf die auf dem Boden liegende Leinwand fallen. Daraus ergibt sich ein neo-abstrakt-expressionistisches Muster, das das gestische Moment ob seiner Absurdität zum Ornament degradiert und dabei das Prozessuale als Illusionismus karikiert. Die Arbeit Untitled (light blue) von 2012 hingegen gibt sich ohne Ironie der Gestik hin. Ein hellblaues Band aus der rhythmischen Sportgymnastik hat er in einem Rahmen drapiert und diesen dann mit Wachs ausgegossen. Aus einem Sportgerät, das Bewegung sichtbar macht, fertigt er also etwas, das an eine abstrakte Komposition erinnert – eine Metamalerei, die auf das Gestische in der Malerei verweist, ohne selbst gemalt zu sein.
Laura Owens ist als Malerin dafür bekannt, gleichermaßen abstrakt und figurativ, sowohl medienübergreifend und -überlagernd als auch mit einer Vielzahl von Referenzen aus Kunstgeschichte, Populär- und Volkskultur zu arbeiten. Kleine Aspekte und Details macht sie oft zu den Zentren ihrer Bilder, wenn sie neue Techniken ausprobiert und dadurch wieder einmal den Stil wechselt. Der Pinselstrich als dekoratives Element und Zeichen tauchte in den letzten Jahren vermehrt in ihren Werken auf, und auch bei Ohne Titel (Clock Painting) von 2013 scheut sie die Nähe zum Dekorativen nicht. In das Gemälde ist ein Uhrwerk eingebaut, ein Zeiger wandert über das Bild. Was in der Malerei steckt, steckt sprachlich auch in der Uhr: Der Zeiger wird im Englischen nämlich mit „hand“ bezeichnet, der Stundenschlag mit „stroke“. So kann der Zeiger durchaus buchstäblich als Metapher für die Hand gelesen werden, der sich beim Malen über die Leinwand bewegt und dabei die Form eines Striches hat, während Owens gleichermaßen auf die Zeit als Faktor in der Bildproduktion anspielt.
Christian Falsnaes’ bevorzugtes Medium ist die Performance. Er arbeitet dabei mit vorgefertigten Skripts denen er mehr oder weniger folgt, und motiviert das Publikum, sich zu involvieren. Es geht ihm um ein Erlebbarmachen von gruppendynamischen Prozessen, aber ebenso um das Bewusstmachen von Ritualen und Verhaltensnormen – im Speziellen auch in der Kunstwelt. Für die Ausstellung erarbeitete Falsnaes eine neue Variation des Stücks Existing Things, in dem das Publikum unter anderem gemeinsam ein Bild malt – mit einem Performer als Pinsel. Mit der Aktion wird individuelle Autorschaft geradezu aufgelöst in einem kollektiven Prozess, von dem dann bunte Pinselstriche in der Ausstellung nachvollziehbar bleiben.
Generell steht der Pinselstrich als eigenständiges Zeichen metaphorisch für die Kunst selbst und lässt sich im zeitgenössischen Kontext vor allem als kritische Anspielung auf den damit verbundenen Künstlermythos lesen. Die Ausstellung zeigt auf, wie sich der Blick auf individuelle Autorschaft, künstlerische Authentizität und Originalität verändert hat. An diesen Kategorien, unter deren Bedingungen wir Kunst wahrnehmen und reflektieren, scheint ein unverändertes Interesse zu bestehen. Allerdings hat sich durch die Möglichkeiten technischer Reproduktion und Medialisierung die Haltung gegenüber dem Wesen des Gestischen in der Malerei gewandelt. Der gestische Ausdruck erhält heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas Unmittelbares, ja erfrischend Körperliches entgegenhalten.