Dienstag, 26 Dezember 2017 16:06

Erwin Wurm – »Performative Skulpturen«

 

kuratiert von Severin Dünser und Alfred Weidinger

21er Haus, Wien

2. Juni – 10. September 2017

 

Befreiungsschläge im Nebel der Bildhauerei

Zu Erwin Wurms „Performativen Skulpturen“

 

„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie? Darüber denke ich seit Jahrzehnten nach“1, meint Erwin Wurm zu seiner Praxis. Und tatsächlich ist er seit über 35 Jahren auf einer künstlerischen Odyssee mit dem Ziel, den klassischen Skulpturbegriff zu erweitern.
Angefangen hat alles mit Skulpturen aus Holzlatten, die Erwin Wurm zu Beginn der 1980er-Jahre zu Figuren zusammengenagelt hat. Zusätzlich hat er sie bunt bemalt, ähnlich dem Stil der „Neuen Wilden“, die damals ihr Unwesen trieben. Klassifiziert als „Neue Skulptur“, waren die Arbeiten dem entgegengesetzt, das damals angesagt war, wie etwa minimalistische oder konzeptuelle Kunst. Bald wurden auch diese Gesten zum Teil des Kanons, und Wurm wollte sich aus seiner Assoziation mit der „Neuen Skulptur“ wieder befreien. In Opposition zu seinem bisherigen Schaffen versuchte er also das Pathos und die Schwere der Kunst zu überwinden.2 Er ließ das Erhabene hinter sich und suchte sich ein neues Werkzeug, um den Zugang zu seiner Kunst neu zu definieren. Was er fand, war das Paradoxe.
Ende der 1980er-Jahre begann Wurm Kleidungsstücke als Ausgangsmaterial für seine Skulpturen zu verwenden. Er stülpte Jacken, Hosen, Hemden und dergleichen über Kuben und Zylinder. Die Arbeiten leben von ihrem Bezug zum menschlichen Körper im Kontrast zur Verfremdung durch das Aufzwingen einer geometrischen Form. 1990 entwickelt er daraus die „Hanging Pullovers“, die nicht mehr an ein Objekt gebunden sind, sondern wie Bilder an der Wand hängen, dabei aber durch spezifische Faltung einen skulpturalen Charakter erhalten. Umgekehrt werden Kleidungsstücke auch zusammengelegt und so in Boxen platziert. Zu diesen Werken entstehen das erste Mal auch Anleitungen, die mit Zeichnungen und Anmerkungen das Falten für die Betrachterinnen und Betrachter nachvollziehbar machen. Wurm hat in diesen Kleidungs-Werken einerseits die klassischen Methoden der Bildhauerei angedeutet, während er einen Gebrauchsgegenstand zum Kunstwerk macht, indem er ihn seiner Funktion beraubt. Gleichzeitig verlagert er den Fokus weg vom Objekt an sich, hin zum skulpturalen Prozess des Schaffens, den er zudem auch noch potentiell auf die Rezipientinnen und Rezipienten überträgt.
In dem Video „Still I“ von 1990 ist dann ein Mann zu sehen, der bewegungslos dasteht. Er hat eine Schüssel über seinen Kopf gestülpt, wodurch seine Mimik verdeckt wird. Das Video ist geloopt, wodurch ein statischer Eindruck erweckt wird, der dem Medium selbst entgegenläuft. Wurm hat hier erstmals einen Menschen zur Skulptur gemacht, die über eine der Bildhauerei fremde Technik vermittelt wird – etwas das bald charakteristisch wird für seinen Umgang mit Skulptur.
1990 kamen auch die Staubskulpturen ans Licht der Öffentlichkeit. Sie bestehen aus weißen Sockeln auf deren Oberkante Staub liegt. Allerdings nicht überall, denn manche Flächen sind ausgespart, als ob dort etwas lange gestanden wäre, das nun verschwunden ist. Normalerweise sind das Skulpturen, die auf solchen Sockeln in Ausstellungsräumen platziert werden. Wurm hat sie mit den Staubskulpturen verschwinden lassen, beziehungsweise an einen anderen Ort gebracht: In unseren Kopf, wo sie ob ihrer Immaterialität imaginiert werden müssen. Thematisiert wird hier Zeitlichkeit als potentielle skulpturale Qualität, die sich recht buchstäblich über den Staub ausdrückt. Zudem führt Wurm das Prinzip der Reproduzierbarkeit in sein Schaffen ein – die Staubskulpturen können nämlich nach genauen Vorgaben auch von Dritten erneut angefertigt werden – und er entzieht sie damit der Vergänglichkeit, während er mit staubtrockenem Humor den Ausstellungsbetrieb persifliert.
In „Fabio zieht sich an“ von 1992 nimmt ein Mann nach und nach alle Kleidungsstücke von einem Kleiderständer und streift sie sich über. Als unförmige, aufgequollene Figur verlässt er dann den Bildausschnitt. In der Arbeit verbindet Wurm Kleidung als Ausgangsmaterial mit einem Akteur, der eine zeitlich begrenzte skulpturale Handlung durchführt. Das Anziehen von Kleidung wird überhöht und zu einer Metapher für die Bildhauerei, also den Umgang mit Volumen, der den abstrakten Schaffensprozess auf etwas alltägliches herunterbricht und ihm eine gesellschaftliche Bedeutungsebene einschreibt.
Im selben Jahr entsteht auch das Video „59 Stellungen“, in dem Kleidungsstücke auf 59 verschiedene Arten über Körper in bestimmten Haltungen und Verrenkungen gestülpt wurden. Wie bei „Still I“ verharren die Körper im Video in ihrer Position und bewegen sich nur unmerklich. „Da sind zum ersten Mal Begriffe wie Lächerlichkeit und Peinlichkeit dazugekommen. Normalerweise möchte man tolle, ernsthafte Kunst machen. Ich habe aber gemerkt, dass das Lächerliche, Peinliche und Hinfällige wesentliche Zustände von uns sind, die mich mehr interessieren.“3
Von hier aus war der Schritt dann nicht mehr weit zu den „One Minute Sculptures“, die ab 1997 entstehen. Ausgehend von Wurms Handlungsanweisungen werden bei diesen Werken die Betrachterinnen und Betrachter eingeladen, selbst für eine Minute eine Skulptur zu sein. Dabei werden in Interaktion mit Objekten Haltungen angenommen, die durch die Verbindung mit den Anmerkungen des Künstlers inhaltlich aufgeladen werden. Die simplen Anordnungen gehen einher mit oft komplexen Fragestellungen oder Denkaufgaben: Etwa über Montaigne nachzudenken (während man einen Filzstift mit dem Kopf gegen die Wand drückt), die Masse eines Stückes Holz zu schätzen (auf dem man gerade liegt) oder über die eigene Verdauung zu reflektieren (während man liegend eine Toilettenreinigungsflasche auf dem Kopf balanciert). Es können aber auch einfachere Anweisungen sein wie ein Hund zu sein, eine Wurst zu essen, den Pullover über den Kopf zu ziehen um ein Terrorist zu sein, beziehungsweise überhaupt Aufforderungen abstrakte Themengebiete als eine Art Denkmal darzustellen, wie etwa die Theorie der Arbeit, die Organisation der Liebe, die Theorie der Malerei oder den Spekulativen Realisten. Paradoxes und eine gewisse Lächerlichkeit sind bei den „One Minute Sculptures“ zum integralen Bestandteil der Arbeit geworden. Die Einbeziehung der Betrachterinnen und Betrachter, die das Werk innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens ausführen (und das auch immer wieder), das Verwenden von Alltagsgegenständen, als auch das Festhalten der skulpturalen Handlungen in Video und Fotografie waren schon Elemente früherer Arbeiten und wurden von Erwin Wurm in den „One Minute Sculptures“ zusammengeführt.
Darauf folgten Fotoserien wie „Instructions for Idleness“ (2001) und „Instructions on how to be politically incorrect“ (2002), also Anweisungen zum Müßiggang beziehungsweise zum politisch inkorrekten Agieren, die das gesellschaftskritische Moment in Wurms Œuvre wieder stärker machten. Zeitgleich entstand das „Fat Car“ (2001), ein „lebensgroßes“ Auto, das aufgedunsen ist und ein paar Rundungen zu viel hat, um noch einem Schönheitsideal zu entsprechen. Das „Fat House“ folgt dem gleichen Prinzip - es ist einfach übergewichtig und quillt an den Seiten über. Der Künstler nimmt hier wieder das Grundprinzip der Bildhauerei, nämlich das Hinzufügen von Volumen, als Ausgangspunkt. Das menschliche Äquivalent, das Sich-Anfüttern und Dick-Werden, überträgt er dann aus dem Alltag zurück in die Welt der Bildhauerei. Die adipösen Statussymbole des Wohlstands stehen stellvertretend für die Übergewichtigkeit in der Gesellschaft und die Ursachen die dahinterstehen, wie Konsumsucht und Überproduktion. Sie sind sozusagen Vanitas-Motive, Sinnbilder der Vergänglichkeit.
Dem „Narrow House“ von 2010 dagegen hat Wurm keine menschlichen Eigenschaften zukommen lassen, geschweige denn menschliche Proportionen. Es ist nicht aufgebläht, sondern zusammengestaucht worden. Es ist ein Nachbau seines Elternhauses in Originalgröße – allerdings in der Breite auf 1,1 Meter geschrumpft. Als prototypischer Bau der 1960er Jahre in Österreich symbolisiert es den viel realisierten Traum des Eigenheims und das damit verbundene Gefühl der Enge, das sich im kleinbürgerlichen, biederen und entindividualisierten Lebensraum manifestiert. Noch einen Schritt weiter in Richtung innerer Befindlichkeiten geht der Künstler schließlich mit der Serie der „Bad Thoughts“ von 2016. Diese unförmige Klumpen von Material in zugeknoteten Müllsäcken verweigern sich einer ironischen Lesart. Die schwarze Oberfläche verhüllt den Blick auf die darunterliegenden Objekte, nur die amorphen Ausformungen lassen Rückschlüsse auf ihr Inneres zu. In ihrer Materialität als Bronzegüsse suggerieren sie eine Schwere, die zusammen mit dem Titel an dunkle Gemütszustände denken lässt. Ähnlich suggestiv-introspektiv funktioniert auch ein Werkblock, an dem Wurm seit 2011 wieder verstärkt gearbeitet hat: die „Performativen Skulpturen“.
Zu ihnen gehören auch die zuvor genannten „Hanging Pullovers“ von 1990 als auch „Pillow“ von 1992. Dieses Kissen kann man nach gezeichneten Anweisungen „bearbeiten“ und „zu einem Gesicht“, „Huhn“, „Hals“, „Arsch“ oder „einem Hockenden machen“. Fortgesetzt hat Wurm den Werkblock ab 2012 mit „House Attack“. Dabei handelt es sich um Modelle von europäischen und amerikanischen Häusern, teils bekannten Gebäuden oder von berühmten Architekten, teils anonymen Bauten zu denen Wurm einen persönlichen Bezug hat. Die Modelle hat der Künstler zunächst aus Ton geformt und bevor sie abgegossen wurden noch einer weiteren Bearbeitung unterzogen: Er hat sie attackiert, und das auf alle möglichen Arten und Weisen. Mal schlägt er auf ein Modell ein oder setzt sich darauf, ein anderes Mal quetscht er es. So legt er sich etwa auf sein Elternhaus und deformiert es durch sein Körpergewicht, springt auf den Narrenturm, fügt der Haftanstalt St. Quentin Schnittwunden zu, gräbt ein Loch ins Hochsicherheitsgefängnis Stammheim, oder tritt gegen eine deutsche Bunkerarchitektur. Es werden also bestimmte Häusertypen malträtiert, denen eine verhaltenskorrigierende Funktion eingeschrieben ist. Die Zerstörung der geschlossenen Form und damit der Hülle, die das Leben in normierter Ordnung hält, wird zur Rebellion gegen Angepasstheit und Regulierung. Für „Abstract Attack“ (2013) lässt er dagegen Würste auf die Häuser los. Die Wurst, das ist genauso ein Symbol der westlichen Konsumkultur. Und sie sind eine Abstraktion von Nahrung, ist doch kaum mehr erkennbar aus was ihre Füllung besteht. Diese Analogie beschert der Skulpturenreihe den Titel „Abstract Attack“ und ironisiert gleichsam die fast schon modernistische Strenge von „House Attack“.
Ab 2015 erweitert sich der Werkblock der „Performativen Skulpturen“ um zwei weitere Untergruppen: „Furnitures“ und „Objects“. Bei den „Furnitures“ fokussiert Erwin Wurm auf Einrichtungsgegenstände wie ein Sofa, einen Sessel, eine Liege, eine Kommode oder einen Kühlschrank. „Objects“ beinhaltet Dinge wie einen Seifenspender, eine Wanduhr, ein Mobiltelefon, ein Maßband oder eine Pistole. Auch hier geht er nach dem gleichen Prinzip vor, das er schon bei „House Attack“ angewendet hat. Er fertigt Modelle aus Ton an, die im Fall der „Objects“ durchaus auch einmal die Größe des Originals überschreiten. Dann findet er Wege, den Modellen gegenüber handgreiflich zu werden – oder sie gleich mit dem Auto zu überfahren. Am Ende überführt er sie dann häufig noch in andere Materialien, indem er die geschundenen Modelle in Bronze, Aluminium, Eisen oder Kunstharz abgießt und mit Farbe überzieht beziehungsweise patiniert.
Eine letzte Untergruppe komplettiert die „Performativen Skulpturen“. Die Werke von „Beat and Treat“ entstehen ab 2011, einen Vorläufer gibt es schon 1995. Im Gegensatz zu den anderen „Performativen Skulpturen“ haben sie allerdings nichts Mimetisches an sich. Sie beruhen nicht auf Häusern oder Gegenständen. Ihr Ausgangspunkt ist das Material in seiner industriellen Rohform: der Tonblock. Und den bearbeitet der Künstler wieder mit seiner ganzen Körperkraft. Wie der Serientitel schon sagt, „schlägt und behandelt“ er den Ton, tobt sich an ihm aus bis das Werk getan ist. Es wundert nicht, dass er diese Arbeiten auch schon mit „Zornskulpturen“ betitelt hat.
Bei den „Performativen Skulpturen“ scheint der Künstler seiner Aggression freien Lauf gelassen zu haben, beziehungsweise hat er das Wut-an-etwas-auslassen dargestellt. Wie schon in früheren Werken nimmt er Anleihe beim Alltag, wenn er solche Zornausbrüche in skulpturale Schaffensprozesse überträgt. Er überspitzt so das Prinzip der bildhauerischen Geste und persifliert sie. Auch das Lächerliche und Peinliche ist in den Arbeiten angedeutet – passiert es doch eher im Verborgenen, wenn man die Fassung verliert und Dinge zerstört, um angestauten Ärger abzubauen. Falls es doch in der Öffentlichkeit passiert, ist es als Betrachter zum fremdschämen.
Erwin Wurm emotionalisiert hier also das bildhauerische Schaffen. Gleichzeitig psychologisiert er den Blick der Betrachterinnen und Betrachter. Die Objekte werden mit den Augen auf Spuren untersucht und es wird versucht Rückschlüsse zu ziehen auf die inneren Motive des Künstlers, seine Abgründe und die Verfasstheit zum Zeitpunkt der jeweiligen skulpturalen Handlung.
Und es ist Erwin Wurm wichtig, wieder selbst Hand anzulegen: „Mir ist aufgefallen, dass viele Künstler fast nichts mehr selbst machen und ihre Werke stattdessen von anderen produzieren lassen. Das trifft auch auf mich zu. Es irritiert mich, weil ich den Kontakt mit meinem Werk verloren habe, sozusagen. Und deshalb versuche ich diesen Kontakt wiederherzustellen indem ich alles selbst mache, oder zumindest den Großteil.“4 Nun könnte man meinen, dass Wurm ja ohnehin viele seiner Werke von anderen ausführen lässt, etwa die „One Minute Sculptures“, und dass dies ja wesentlicher Bestandteil seines Œuvres sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein Großteil der Entwicklung neuer Ideen beim manuellen Experimentieren passieren – eine Erfahrung die durch abstraktes Planen nicht wettgemacht werden kann, und für das Fortschreiben eines Gesamtwerks unabdingbar ist. Zudem hat Erwin Wurm seine Rolle als Autor nie abgegeben: Auch wenn Besucher seine Skulpturen ausführen können, bleibt die Autorschaft über das Werk beim Künstler.
Seine „Performativen Skulpturen“ sind nicht nur aufgeladen mit Emotion, sie sind auch aufgeladen mit Autorschaft. Sie wird in seinem Werkblock geradezu überzeichnet. Und als Ausdruck dieser Autorschaft kann man die vielen Einwirkungen des Künstlerkörpers auf das Material durchaus als Gesten lesen. Diese Gesten transportieren die Aura des Einmaligen, stellen sie aber in ihrer Reproduzierbarkeit durch Abgießen gleichsam in Frage. Die Unmittelbarkeit der Gesten unterstützt allerdings das Aufrechterhalten einer Authentizität des Ausdrucks. Ähnlich wie bei der gestischen Malerei des Informel, geht es hier um die Nachvollziehbarkeit eines gestischen Impulses, um die auf das Material übertragene Energie. Das Hervorheben des Schaffensprozesses geht einher mit allen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des scheinbar Unbewussten.
Durch die Überzeichnung können die Gesten bei Erwin Wurm jedenfalls als kritische Anspielungen auf den damit verbundenen Künstlermythos gelesen werden, wenngleich der Künstler selbst uns über den Status seiner Handlungen im Unklaren lässt. Trotzdem erhält der gestische Ausdruck heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas erfrischend Körperliches entgegenhalten.
Was von den „Performativen Skulpturen“ vor allem als Eindruck zurückbleibt, ist die Betonung des Schaffensprozesses, mit dem er die physischen Objekten in diesem Werkblock fast buchstäblich kollidieren lässt. Die Moral von der Geschichte? Dinge sind vergänglich, Handeln dagegen macht ein selbstbestimmtes Leben möglich. Kritische Reflexion des eigenen Tuns im Kontext der Gesellschaft also, um vom Subjekt nicht selbst zum Objekt zu werden. Aber wie Erwin Wurm einmal gesagt hat: „Mein Werk handelt vom Drama der Belanglosigkeit der Existenz. Ob man sich ihr durch Philosophie oder durch eine Diät nähert, am Ende zieht man immer den Kürzeren.“

 

1 Erwin Wurm im Interview mit Tobias Haberl, „Gott sei dank gibt es noch die dunkle Seite“, Sueddeutsche Zeitung Magazin, 18. November 2016, Nr. 46, S. 25, München, Deutschland
2 Vgl. Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 50, New York, USA
3 Erwin Wurm im Interview mit Brigitte Neider-Olufs, "Die Welt wird zunehmend breiter", Wiener Zeitung, 15.10.2010, Wien, Österreich
4 “I have come to realize how much contemporary art suffers, or has suffered, from the fact that artists’ studios have been transformed into manufacturing workshops. I have noticed that many artists do almost nothing at all themselves, but rather let their works be produced by others. That really strikes me. It irritates me because I have lost contact with my work, so to speak. And so I am trying to get that contact back again by creating everything myself, or at least for the most part by myself.” – Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 51, New York, USA


Katalog zur Ausstellung:
Erwin Wurm – Performative Skulpturen
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Alfred Weidinger
Mit Texten von Severin Dünser und Stella Rollig sowie einem Interview zwischen Erwin Wurm und Alfred Weidinger
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Hardcover, 29 x 22,5 cm, 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe und s/w
Verlag für moderne Kunst, Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-40-1

Freigegeben in Ausstellungsdetails
Mittwoch, 10 August 2016 20:56

»Love Story«

Sammlung Anne & Wolfgang Titze

 

Marina Abramovic, David Altmejd, Carl Andre, Matthew Barney, Georg Baselitz, Valérie Belin, Larry Bell, Matthew Brannon, James Lee Byars, John Chamberlain, Nigel Cooke, Richard Deacon, Thomas Demand, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Olafur Eliasson, Dan Flavin, Lucio Fontana,  Barnaby Furnas, Adrian Ghenie, Antony Gormley, Rodney Graham, Kevin Francis Gray, Andreas Gursky, Wade Guyton, Guyton/Walker, Eberhard Havekost, Thomas Helbig, Gregor Hildebrandt, Shirazeh Houshiary, Nathan Hylden, Kathleen Jacobs, Donald Judd, Anish Kapoor, Jacob Kassay, Anselm Kiefer, Yayoi Kusama, Claude Lévêque, Sherrie Levine, Sol LeWitt, Robert Longo, Sarah Lucas, Robert Mangold, Piero Manzoni, Christian Marclay, Agnes Martin, John McCracken, Adam McEwen, Julie Mehretu, Mario Merz, Matthew Monahan, Robert Morris, Gabriel Orozco, Damián Ortega, Giulio Paolini, Adam Pendleton, Joyce Pensato, Grayson Perry, Paola Pivi, Jaume Plensa, Seth Price, Rashid Rana, Gerhard Richter, Charles Ross, Sterling Ruby, Robert Ryman, Fred Sandback, Wilhelm Sasnal, Thomas Scheibitz, Sean Scully, Dirk Skreber, Tony Smith, Peter Stauss, Frank Stella, Rudolf Stingel, Wolfgang Tillmans, Günther Uecker, Bernar Venet, Kelley Walker, Jeff Wall, Rebecca Warren, Lawrence Weiner, Rachel Whiteread, Christopher Williams, Christopher Wool, Erwin Wurm, Lisa Yuskavage, Toby Ziegler, Thomas Zipp, Heimo Zobernig; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja

 

Belvedere Winterpalais und 21er Haus, Wien

15. Juni — 5. Oktober 2014

 

Die Ausstellung dreht sich – wie der Titel schon andeutet – um eine Leidenschaft. Und zwar um jene, die das französisch-österreichische Sammlerpaar Anne und Wolfgang Titze mit der Kunst verbindet. Zunächst begann diese spezielle Beziehung manchen Ausdrucksformen und Materialien wie etwa der formalen Kühle der Minimal Art und der Konzeptkunst der 1960er-Jahre gegenüber zurückhaltend. Durch die intensive Auseinandersetzung – auch mit der zugänglicheren Arte Povera – entwickelte sich nach anfänglichen Vorbehalten eine gemeinsame Passion, die in einer Kunstsammlung mündete. Rund 20 Jahre später bilden Minimal Art, Konzeptkunst und Arte Povera noch immer den Kern der Sammlung, die inzwischen aber gezielt bis zu aktuellsten Positionen hin erweitert wurde. Eine Auswahl mit circa 130 Werken von rund 90 Künstlerinnen und Künstlern wird nun zum ersten Mal öffentlich gezeigt und tritt in ein reizvolles Zusammenspiel mit dem barocken Interieur des Winterpalais und der modernen Pavillonarchitektur des 21er Haus.
Im Zentrum der Ausstellung im 21er Haus treffen Arbeiten der Wegbereiter der Reduktion der 1950er-Jahre, der Minimal Art und der Konzeptkunst der 1960er-Jahre aufeinander. Jüngste Tendenzen in Malerei, Skulptur und Fotografie umkreisen diesen Knotenpunkt und nehmen Fragestellungen nach Körper, Raum, Geste und Abbild wieder auf. Zwischen Oberem Belvedere und Schlossteich konfrontiert eine Stahlskulptur von Bernar Venet den historischen Baubestand mit zeitgenössischer Formgebung – ein Leitmotiv, das sich im Winterpalais fortsetzt. Dort bringt die ortsspezifische Präsentation konzeptuelle und figurative malerische Ansätze, etwa der deutschen Nachkriegskunst, Werke der Arte Povera, moderne und postmoderne Bildhauerei in unterschiedlichsten Materialien ebenso wie aktuelle Bildfindungen in Dialog mit der ehemaligen Residenz des Prinzen Eugen von Savoyen.
Zwischen weißer Museumswand und vergoldeter Stuckatur entfalten die Exponate hier wie da eine Wechselwirkung sich anziehender Gegensätze, die nicht nur eine neue Sicht auf die Orte, sondern auch auf die in ihnen inszenierten Werke eröffnet.

Freigegeben in Ausstellungsdetails
Montag, 20 Juni 2016 13:32

»Flirting with Strangers«

 

Herbert Albrecht, Franz Amann, Martin Arnold, Richard Artschwager, Jo Baer, Franz Barwig d. Ä., Georg Baselitz, Herbert Bayer, Herbert Boeckl, Norbertine Bresslern-Roth, Cäcilia Brown, Gerard Byrne, John Chamberlain, Lovis Corinth, Josef Dabernig, Svenja Deininger, Thomas Demand, Verena Dengler, Carola Dertnig, Gerald Domenig, Heinrich Dunst, Angus Fairhurst, Gelitin, Bruno Gironcoli, Carl Goebel d. J., Roland Goeschl, Dan Graham, Robert Gruber, Julia Haller, Swetlana Heger & Plamen Dejanoff, Alois Heidel, Damien Hirst, Benjamin Hirte, Christine & Irene Hohenbüchler, Kathi Hofer, Lisa Holzer, Judith Hopf, Bernhard Hosa, Kurt Hüpfner, Christian Hutzinger, Lukáš Jasanský & Martin Polák, Anna Jermolaewa, Ernst Juch, Birgit Jürgenssen, Tillman Kaiser, Luisa Kasalicky, Michael Kienzer, Erika Giovanna Klien, Jakob Lena Knebl, Kiki Kogelnik, Nathalie Koger, Peter Kogler, Oskar Kokoschka, Cornelius Kolig, Elke Krystufek, Hans Kupelwieser, František Kupka, Maria Lassnig, Sonia Leimer, Anita Leisz, Sherrie Levine, Thomas Locher, Sarah Lucas, Marko Lulić, Christian Mayer, Dorit Margreiter, Christoph Meier, Carl von Merode, Alois Mosbacher, Matt Mullican, Edvard Munch, Flora Neuwirth, Oswald Oberhuber, Nick Oberthaler, Walter Obholzer, Giulio Paolini, Elisabeth Penker, Rudolf Polanszky, Lisl Ponger, Antonín Procházka, Florian Pumhösl, Bernd Ribbeck, Gerwald Rockenschaub, Anton Romako, Anja Ronacher, Wally Salner, Christian Schwarzwald, Johannes Schweiger, Martina Steckholzer, Edward Steichen, Rudolf Stingel, Gerold Tagwerker, Rosemarie Trockel, Esin Turan, Salvatore Viviano, Johannes Vogl, Maja Vukoje, Rebecca Warren, Christoph Weber, Letizia Werth, Franz West, Sue Williams, Robert Wilson, Erwin Wurm, Otto Zitko, Heimo Zobernig; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja

 

21er Haus, Wien

9. September 2015 — 31. Jänner 2016

 

 

Verstehen wir eine Sammlung doch einmal als ein Beziehungsgefüge zwischen Dingen, die einander begegnen. Und als eine Gelegenheit, die, wie Jean Baudrillard es formuliert hat, eine „tägliche Prosa der Gegenstände, […] eine unbewusste und triumphale Unterhaltung“1 etabliert. Die Ausstellung Flirting with Strangers nimmt diesen Gedanken auf und inszeniert ein spannungsvolles, spielerisches und manchmal auch unerwartetes Aufeinandertreffen von und mit Werken aus der Sammlung. Bedarf es vieler Gemeinsamkeiten, um hier „ins Gespräch zu kommen“? Oder sind es eher die individuellen Eigenheiten, die den Funken überspringen lassen?

Kunstwerke sind Dinge, denen ein besonders hoher Grad an Individualität zugeschrieben wird. Keines gleicht dem anderen – ihre Einzigartigkeit zeichnet sie aus, und darin begründet sich gemeinhin auch ihre Sammlungswürdigkeit. Einmal auserwählt, werden sie zu einem unter vielen – eine Paradoxie des Vergleichs von Unvergleichbarem, die dem Sammeln innewohnt. Mit musealen Sammlungen verbinden wir ein Systematisieren der Dinge entlang wissenschaftlicher Kategorien und kunsthistorischer Ordnungsmodi, die Zusammenhänge herstellen, Sinn stiften und als wirkmächtige Deutungsinstanzen verbindliches Wissen produzieren. Und Ausstellungen sind letztlich (An-)Ordnungen dieses Wissens, die aber zugleich das Potenzial haben, alternative Deutungen zu entwerfen und Aktualisierungen zu ermöglichen.

Zentrale Aufgaben des 21er Haus sind das Sammeln, das Erhalten, das Aufarbeiten und nicht zuletzt das Ausstellen lokaler zeitgenössischer Kunst im internationalen Kontext. Was bedeutet „zeitgenössische Kunst“ denn eigentlich? Sie stellt auf jeden Fall eine Abgrenzung zu den Avantgarden der Moderne dar, die das Feld lange Zeit aus einer westlichen Perspektive dominierten. Und sie verspricht eine Relevanz in der Gegenwart, eine Verbundenheit mit dem Hier und Jetzt. Zudem definiert sie sich eher über ihre Offenheit denn über geografische oder kulturelle Grenzen – die globalisierte Welt mit ihrer ideellen Diversität bei gleichzeitiger Ökonomisierung derselben spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Kunst wider. Wo die Argumente der klassischen Kunstgeschichte nicht mehr reibungsfrei greifen, wird der Diskurs durch Wertesysteme und Logiken des Marktes kompensiert. Da Information überall jederzeit verfügbar ist, breiten sich stilistische Tendenzen schnell weltweit aus und eröffnen der lokalen Kunstproduktion eine potenziell internationale Bühne.

Diese zunehmende Vielschichtigkeit von Positionen und Perspektiven zeigt sich in den Arbeiten der über hundert Künstlerinnen und Künstler, die in der Schau Flirting with Strangers zu sehen sind. Erwin Wurms Aufforderung Seien Sie ein Hund für eine Minute trifft etwa auf Oskar Kokoschkas Tigerlöwe. Während Wurm die Besucherin und den Besucher dem Animalischen nachspüren lässt, malt Kokoschka eindrücklich eine nie wiederholte Kreuzung zwischen Löwe und Tiger: „Ich war schläfrig an die starken Eisenstangen des Käfigs gelehnt […] Der Schock, als die Riesenkatze wie eine flammende, gelbe Bombe aus dem Dunkeln mit allen Vieren ans Licht, ins Freie, auf mich sprang, genügte, um mich zu wecken!“2. Wo Rudolf Polanszky mit seinem Hintern Bilder malt, hängt unweit Hans Kupelwiesers Fotogramm von Stühlen, die zwar auch dort stehen, aber durch eine aufgesetzte Metallbox ebenso wenig zum Sitzen taugen wie die an die Wand montierten Sessel von Thomas Locher. Edward Steichens Porträt von Auguste Rodin zeigt diesen mit seinem Denkmal für Victor Hugo und dem Denker, während Maria Lassnig im Doppelselbstporträt mit Kamera und Maja Vukojes Patata vertieft in sich kehren. Mit einem Paar Schuhe in der Installation About A B order bringt Heinrich Dunst sich selbst und zugleich die Frage der Autorschaft ins Spiel, während Carola Dertnig in Again Audience / Collage 8 den Blick auf die Füße des Publikums historischer Performances richtet. Die Ausstellung versucht das Format der Sammlungspräsentation also einmal anders zu denken: Sie geht bewusst ahistorisch und unabhängig von Stilgeschichten vor, hebt manches Mal scheinbare Nebensächlichkeiten, möglicherweise auch weit hergeholte Ähnlichkeiten hervor – mit der Absicht, das Detail des Einzelnen in den Fokus zu nehmen und unvermutete Beziehungen zwischen den Dingen zumindest in den Raum zu stellen.

1 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Frankfurt a. M. 1991, S. 112
2 Oskar Kokoschka, Mein Leben, München 1971, S. 207–208.

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