
Super User
Anne Schneider
»Ableger / Lessening Fold«
21er Haus, Wien
5. Dezember 2015 — 17. Jänner 2016
»Ableger / Lessening Fold« nennt Anne Schneider ihre Ausstellung im 21er Haus. Ein »Ableger« ist ein abgetrennter Teil einer Pflanze, aus dem eine neue wachsen kann – eine Methode zur Vermehrung also. Metaphorisch steht dieser Teil des Titels bei Schneider aber für ihre Prozesse des Denkens und Arbeitens: Das Ablegen von Dingen ist ein wesentlicher Teil ihrer Praxis. »Aus dem Ablegen entstehen neue gedankliche Verbindungen und daraus Formationen. Dieser Hang zum Liegenlassen und Stapeln erzeugt zuerst Chaos, aus dem ich kreativ schöpfen kann und das in einer bewussten Wiederholung einzelner Verbindungen Neues formuliert«, erklärt Schneider. Der zweite Teil des Titels –»Lessening Fold«, also »abnehmende Falte« – verweist auf die formale Seite ihres Schaffens, das Entstehenlassen von Falten durch das Quetschen und Pressen von Volumen.
Bildhauerei bedeutet im Wesentlichen, mit Volumen umzugehen, seien es nun additive Verfahren wie bei der Plastik oder subtraktive Methoden wie bei der Skulptur. Anne Schneider bedient sich beider Arbeitsweisen und greift dafür auf Materialien wie Wachs, Beton, Jute oder Metall zurück. Es sind Stoffe, die man aus dem Alltag kennt und die der Künstlerin ein hohes Maß an Freiheit im Umgang mit ihnen erlauben. Jute assoziiert man mit Säcken, die man dazu verwendet, sie mit anderen Dingen zu befüllen. Schneider verwendet gebrauchte Jute, die eigentlich Abfall ist bzw. ein entwerteter Stoff, und untergräbt so Materialhierarchien. Auch Wachs ist ein gewöhnlicher Rohstoff, der reversibel ist und einfach in unterschiedliche Aggregatzustände gebracht werden kann. Das bringt eine Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Material mit sich, die einerseits der Künstlerin ermöglicht, fast skizzenhaft damit zu arbeiten, was andererseits den Formwerdungsprozess für den Besucher nachvollziehbar macht. Auch bei der Verwendung von Beton werden Berührungen und Gesten erkennbar. Hier sind es keine Spuren von Händen, sondern Abdrücke von Nähten, die die Herstellung ablesbar machen: Anne Scheider näht Textilien zu Negativformen, die sie mit Beton ausgießt. Normalerweise werden für Gussformen starre Materialien verwendet, um exakte Ergebnisse zu erzielen. Textilien sind flexibel, wodurch sich beim Guss Ausbuchtungen ergeben, aber auch Falten. Was als Form noch geometrischen Prinzipien folgt und formale Strenge hat, erhält im Guss etwas organisch Anmutendes, fast Anthropomorphes, das mit seinen weichen Rundungen im Gegensatz zu seiner harten Materialität steht.
Viele von Anne Schneiders Betonobjekten sind zudem rosa bzw. hautfarben eingefärbt, was ihre Körperhaftigkeit noch steigert. Das Organische, das diesen Objekten anhaftet, subjektiviert sie und gibt ihnen einen Charakter. Wesenhaft sitzen und stehen sie im Raum, während eine andere Serie von Arbeiten, die Bodies, diese Anthropomorphität zwar im Namen trägt, sie aber nicht ausstrahlt. Es sind gegenstandhafte Objekte, die an Möbel erinnern und durch den antizipierten Gebrauch auf den Körper verweisen. Ihre suggestive Kraft liegt in der Abwesenheit von Körpern und zugleich in deren Eingeschriebenheit in die Skulpturen.
Die Ausstellung deutet so auch auf einen Wohnraum hin. Architektur ist ein wiederkehrendes Motiv bei Anne Schneider, ebenso die Idee der Erfahrung durch Zeit und Bewegung. Zwei Objekte in der Ausstellung etwa sind wie Portallöwen positioniert, und man muss zwischen ihnen durchgehen, um dann vor einer schwarzen Wand aus Wachs zum Stehen zu kommen. Das Private und Intime wird in einem öffentlichen Raum seziert und präsentiert. Dies ist aber keine Illustration eines domestischen Raums, sondern das Domestizieren eines Raums. Dem Modernismus und seiner Rationalisierung des Lebens setzt Schneider etwas Organisches entgegen, genauso dem White Cube einen Rückzugsort.
Und als solchen hat Anne Schneider die Ausstellung konzipiert: als einen Ort zum Entschleunigen, zum Runterkommen. Indem sie in ihrer Praxis auf Materialien setzt, die alltäglich sind, zu denen sie auch als Person eine gewisse Nähe hat und mit denen sie auf eine Art und Weise umgeht, die auf ebenso vertrauten Techniken wie Nähen beruht, betont die Künstlerin ein kontemplatives Moment in ihrer Kunst: Hier geht es nicht um eine Auseinandersetzung, sondern um eine Vertiefung. Das physische Wahrnehmen der Ausstellung wird so zu einer psychischen Erfahrung, die innerlich entspannt und Falten reduziert.
Anne Schneider, geboren 1965, lebt in Wien. Ihre Arbeiten waren u. a. in den Ausstellungen Care bei Interstate Projects in New York (2015) und Oysters with Lemon bei Ventana in Brooklyn (2015), in der Minerva Gallery in Sydney (2015), bei Supergood in Wien (2015), im Salzburger Kunstverein (2014), in anthropomorph und unähnlich in der Galerie Christine König in Wien (2011) und in Nichts ohne den Körper im Lentos Kunstmuseum in Linz (2008) zu sehen.
Till Megerle
»Donkeys«
21er Raum im 21er Haus, Wien
29. Oktober — 29. November 2015
Als Künstler geht es erst einmal darum, Möglichkeiten zu finden, um zu kommunizieren. Zeichnungen befinden sich außerhalb eines Repräsentationsdiskurses und bieten so ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit, das auch in den niedrigschwelligen Produktionsbedingungen begründet ist: Zeichnen ist praktisch, billig und eigentlich immer und überall machbar. Zeichnungen unterstellt man deshalb gern eine gewisse Unmittelbarkeit, und man neigt dazu, sie zu psychologisieren. Till Megerles Arbeiten auf Papier scheinen diese Projektionen aber nicht einzulösen.
Das Medium ermöglicht, sich Vokabulare zu erarbeiten, um dann auf verschiedene Arten zu formulieren. Die Gesten, die dabei entstehen, verwendet Till Megerle wie einzelne Zeichen bzw. Buchstaben, die, immer wieder neu zusammengesetzt, Konstruktionen ergeben, die man „lesen“ kann. Das Interpretieren hintertreibt er allerdings, indem er Stile wie Worthülsen verwendet und von Zeichnung zu Zeichnung austauscht. Unsere Rezeption wird in ein Versteckspiel verwickelt zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir darauf projizieren. Und sie wird ins Schwanken gebracht mit einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz. In der Frühromantik schrieb Friedrich Schlegel: „In jedem guten Gedicht muss alles Absicht, und alles Instinkt sein. Dadurch wird es idealisch.“ Reflexion und Intuition, also Geist und Bauch, Distanz und Nähe, verbindet Megerle dann auch in seiner zeichnerischen Praxis, um Intensitäten hervorzubringen.
Um eine Gleichzeitigkeit innerhalb eines Dualismus geht es auch bei den Gnostikern. Zwischen 200 vor und 300 nach Beginn unserer Zeitrechnung basierten verschiedene gnostische Lehren auf dem Glauben an eine grundsätzlich böse, materielle Welt (der Mensch samt Körper und Geist mit eingeschlossen) im Gegensatz zu einem guten, allumfassenden Gott. Da der aber teilnahmslos ist, werden böse Götter angebetet. „So scheint mir die Anbetung eines Gottes mit Eselskopf (da der Esel das abscheulich-komischste, aber zugleich das menschlich-virilste Tier ist) noch heute imstande zu sein, eine ganz kapitale Bedeutung anzunehmen, und der abgeschnittene Eselskopf der azephalischen Verkörperung der Sonne stellt, so unvollkommen sie auch sei, gewiss eine der virulentesten Manifestationen des Materialismus dar“, schreibt Georges Bataille 1930 in seinem Aufsatz „Der niedere Materialismus und die Gnosis“.
Till Megerle eignet sich für seine Zeichenserie das Motiv des Eselskopfes an. Er übernimmt den Sujetkomplex als ein Stimmungsbild, das er interessant findet – es geht also um Bataille als Popmotiv und nicht um Neosurrealismus. Wie Bataille anmerkt, bietet der Esel einiges Identifikationspotenzial. Während das Pferd ein Schönheitsideal verkörpert, ist der Esel dessen mit minderen Qualitäten versehener Bruder. Das Pferd steht für Hochkultur, der Esel für den Zirkus: Er birgt ein Moment der Subversion in sich, ist Manifestation des entfesselten, dunklen Materiellen.
Die meisten Esel hat der Künstler in karikaturhafter Manier gezeichnet. Die Idee der Karikatur hatte für Megerle immer einen besonderen Reiz, da man dabei versuche, nicht authentisch zu sein, sondern über eine künstlerische Form über Sachen zu sprechen. Karikatur an sich ist kein Ausdrucksstil, sondern ein artifizieller Stil mit einer gewissen Distanz zur Realität und erleichtert so das In-Spannung-Bringen von Reflexion und Intuition. So verwundert es nicht, dass Megerle in einer anderen Serie auf das Karikaturrepertoire des 19. Jahrhunderts zurückgreift, etwa auf Wilhelm Busch. Dessen Werke kann man als lustige Geschichten lesen, aber auch als Illustrationen von Arthur Schopenhauers Ideen. Schopenhauers Philosophie kreist u. a. um den Willen, dessen stärkster Ausdruck der nicht dauerhaft zu befriedigende Geschlechtstrieb sei.
Und hier kommen wir langsam zum Kern der Arbeiten von Till Megerle, seien sie nun fotografisch oder zeichnerisch. Nicht nur bei den Eselsköpfen geht es um Körperlichkeiten, besser gesagt um Körperkomplikationen, um die Physis in ungünstiger oder unsouveräner Situation. In einer täglichen Praxis subsummiert Megerle einzelne Gesten zu sorgfältigen Gefügen. Die entstandenen Konstruktionen werden in Zweifel gezogen und auf wenige Blätter reduziert. Dieses Destillat ist lapidar, aber hält mit wenigen Strichen einen Diskursraum rund um Körperpolitiken, Sexualität und zwischenmenschliche Machtverhältnisse intakt, der zwischen den Zeichen zum Vorschein kommt.
Till Megerle wurde 1979 geboren und lebt in Wien und Berlin. Seine Arbeiten waren zuletzt u.a. bei William Arnold, New York (2015), im Kunstverein Freiburg (2015), bei Christian Andersen, Kopenhagen (2014), der Galerie Micky Schubert, Berlin (2014), bei Diana Lambert, Wien (2013) und bei Center, Berlin (2012) zu sehen.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
»Flirting with Strangers«
Herbert Albrecht, Franz Amann, Martin Arnold, Richard Artschwager, Jo Baer, Franz Barwig d. Ä., Georg Baselitz, Herbert Bayer, Herbert Boeckl, Norbertine Bresslern-Roth, Cäcilia Brown, Gerard Byrne, John Chamberlain, Lovis Corinth, Josef Dabernig, Svenja Deininger, Thomas Demand, Verena Dengler, Carola Dertnig, Gerald Domenig, Heinrich Dunst, Angus Fairhurst, Gelitin, Bruno Gironcoli, Carl Goebel d. J., Roland Goeschl, Dan Graham, Robert Gruber, Julia Haller, Swetlana Heger & Plamen Dejanoff, Alois Heidel, Damien Hirst, Benjamin Hirte, Christine & Irene Hohenbüchler, Kathi Hofer, Lisa Holzer, Judith Hopf, Bernhard Hosa, Kurt Hüpfner, Christian Hutzinger, Lukáš Jasanský & Martin Polák, Anna Jermolaewa, Ernst Juch, Birgit Jürgenssen, Tillman Kaiser, Luisa Kasalicky, Michael Kienzer, Erika Giovanna Klien, Jakob Lena Knebl, Kiki Kogelnik, Nathalie Koger, Peter Kogler, Oskar Kokoschka, Cornelius Kolig, Elke Krystufek, Hans Kupelwieser, František Kupka, Maria Lassnig, Sonia Leimer, Anita Leisz, Sherrie Levine, Thomas Locher, Sarah Lucas, Marko Lulić, Christian Mayer, Dorit Margreiter, Christoph Meier, Carl von Merode, Alois Mosbacher, Matt Mullican, Edvard Munch, Flora Neuwirth, Oswald Oberhuber, Nick Oberthaler, Walter Obholzer, Giulio Paolini, Elisabeth Penker, Rudolf Polanszky, Lisl Ponger, Antonín Procházka, Florian Pumhösl, Bernd Ribbeck, Gerwald Rockenschaub, Anton Romako, Anja Ronacher, Wally Salner, Christian Schwarzwald, Johannes Schweiger, Martina Steckholzer, Edward Steichen, Rudolf Stingel, Gerold Tagwerker, Rosemarie Trockel, Esin Turan, Salvatore Viviano, Johannes Vogl, Maja Vukoje, Rebecca Warren, Christoph Weber, Letizia Werth, Franz West, Sue Williams, Robert Wilson, Erwin Wurm, Otto Zitko, Heimo Zobernig; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja
21er Haus, Wien
9. September 2015 — 31. Jänner 2016
Verstehen wir eine Sammlung doch einmal als ein Beziehungsgefüge zwischen Dingen, die einander begegnen. Und als eine Gelegenheit, die, wie Jean Baudrillard es formuliert hat, eine „tägliche Prosa der Gegenstände, […] eine unbewusste und triumphale Unterhaltung“1 etabliert. Die Ausstellung Flirting with Strangers nimmt diesen Gedanken auf und inszeniert ein spannungsvolles, spielerisches und manchmal auch unerwartetes Aufeinandertreffen von und mit Werken aus der Sammlung. Bedarf es vieler Gemeinsamkeiten, um hier „ins Gespräch zu kommen“? Oder sind es eher die individuellen Eigenheiten, die den Funken überspringen lassen?
Kunstwerke sind Dinge, denen ein besonders hoher Grad an Individualität zugeschrieben wird. Keines gleicht dem anderen – ihre Einzigartigkeit zeichnet sie aus, und darin begründet sich gemeinhin auch ihre Sammlungswürdigkeit. Einmal auserwählt, werden sie zu einem unter vielen – eine Paradoxie des Vergleichs von Unvergleichbarem, die dem Sammeln innewohnt. Mit musealen Sammlungen verbinden wir ein Systematisieren der Dinge entlang wissenschaftlicher Kategorien und kunsthistorischer Ordnungsmodi, die Zusammenhänge herstellen, Sinn stiften und als wirkmächtige Deutungsinstanzen verbindliches Wissen produzieren. Und Ausstellungen sind letztlich (An-)Ordnungen dieses Wissens, die aber zugleich das Potenzial haben, alternative Deutungen zu entwerfen und Aktualisierungen zu ermöglichen.
Zentrale Aufgaben des 21er Haus sind das Sammeln, das Erhalten, das Aufarbeiten und nicht zuletzt das Ausstellen lokaler zeitgenössischer Kunst im internationalen Kontext. Was bedeutet „zeitgenössische Kunst“ denn eigentlich? Sie stellt auf jeden Fall eine Abgrenzung zu den Avantgarden der Moderne dar, die das Feld lange Zeit aus einer westlichen Perspektive dominierten. Und sie verspricht eine Relevanz in der Gegenwart, eine Verbundenheit mit dem Hier und Jetzt. Zudem definiert sie sich eher über ihre Offenheit denn über geografische oder kulturelle Grenzen – die globalisierte Welt mit ihrer ideellen Diversität bei gleichzeitiger Ökonomisierung derselben spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Kunst wider. Wo die Argumente der klassischen Kunstgeschichte nicht mehr reibungsfrei greifen, wird der Diskurs durch Wertesysteme und Logiken des Marktes kompensiert. Da Information überall jederzeit verfügbar ist, breiten sich stilistische Tendenzen schnell weltweit aus und eröffnen der lokalen Kunstproduktion eine potenziell internationale Bühne.
Diese zunehmende Vielschichtigkeit von Positionen und Perspektiven zeigt sich in den Arbeiten der über hundert Künstlerinnen und Künstler, die in der Schau Flirting with Strangers zu sehen sind. Erwin Wurms Aufforderung Seien Sie ein Hund für eine Minute trifft etwa auf Oskar Kokoschkas Tigerlöwe. Während Wurm die Besucherin und den Besucher dem Animalischen nachspüren lässt, malt Kokoschka eindrücklich eine nie wiederholte Kreuzung zwischen Löwe und Tiger: „Ich war schläfrig an die starken Eisenstangen des Käfigs gelehnt […] Der Schock, als die Riesenkatze wie eine flammende, gelbe Bombe aus dem Dunkeln mit allen Vieren ans Licht, ins Freie, auf mich sprang, genügte, um mich zu wecken!“2. Wo Rudolf Polanszky mit seinem Hintern Bilder malt, hängt unweit Hans Kupelwiesers Fotogramm von Stühlen, die zwar auch dort stehen, aber durch eine aufgesetzte Metallbox ebenso wenig zum Sitzen taugen wie die an die Wand montierten Sessel von Thomas Locher. Edward Steichens Porträt von Auguste Rodin zeigt diesen mit seinem Denkmal für Victor Hugo und dem Denker, während Maria Lassnig im Doppelselbstporträt mit Kamera und Maja Vukojes Patata vertieft in sich kehren. Mit einem Paar Schuhe in der Installation About A B order bringt Heinrich Dunst sich selbst und zugleich die Frage der Autorschaft ins Spiel, während Carola Dertnig in Again Audience / Collage 8 den Blick auf die Füße des Publikums historischer Performances richtet. Die Ausstellung versucht das Format der Sammlungspräsentation also einmal anders zu denken: Sie geht bewusst ahistorisch und unabhängig von Stilgeschichten vor, hebt manches Mal scheinbare Nebensächlichkeiten, möglicherweise auch weit hergeholte Ähnlichkeiten hervor – mit der Absicht, das Detail des Einzelnen in den Fokus zu nehmen und unvermutete Beziehungen zwischen den Dingen zumindest in den Raum zu stellen.
1 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Frankfurt a. M. 1991, S. 112
2 Oskar Kokoschka, Mein Leben, München 1971, S. 207–208.
- 21er Haus
- Herbert Albrecht
- Franz Amann
- Martin Arnold
- Richard Artschwager
- Jo Baer
- Franz Barwig d Ä
- Georg Baselitz
- Herbert Bayer
- Herbert Boeckl
- Norbertine BresslernRoth
- Cäcilia Brown
- Gerard Byrne
- John Chamberlain
- Lovis Corinth
- Josef Dabernig
- Svenja Deininger
- Thomas Demand
- Verena Dengler
- Carola Dertnig
- Gerald Domenig
- Heinrich Dunst
- Angus Fairhurst
- Gelatin
- Bruno Gironcoli
- Carl Goebel d J
- Roland Goeschl
- Dan Graham
- Robert Gruber
- Julia Haller
- Swetlana Heger & Plamen Dejanoff
- Alois Heidel
- Damien Hirst
- Benjamin Hirte
- Christine & Irene Hohenbüchler
- Kathi Hofer
- Lisa Holzer
- Judith Hopf
- Bernhard Hosa
- Kurt Hüpfner
- Christian Hutzinger
- Lukáš Jasanský & Martin Polák
- Anna Jermolaewa
- Ernst Juch
- Birgit Jürgenssen
- Tillman Kaiser
- Luisa Kasalicky
- Michael Kienzer
- Erika Giovanna Klien
- Jakob Lena Knebl
- Kiki Kogelnik
- Nathalie Koger
- Peter Kogler
- Oskar Kokoschka
- Cornelius Kolig
- Elke Krystufek
- Hans Kupelwieser
- František Kupka
- Maria Lassnig
- Sonia Leimer
- Anita Leisz
- Sherrie Levine
- Thomas Locher
- Sarah Lucas
- Marko Lulić
- Christian Mayer
- Dorit Margreiter
- Christoph Meier
- Carl von Merode
- Alois Mosbacher
- Matt Mullican
- Edvard Munch
- Flora Neuwirth
- Oswald Oberhuber
- Nick Oberthaler
- Walter Obholzer
- Giulio Paolini
- Elisabeth Penker
- Rudolf Polanszky
- Lisl Ponger
- Antonín Procházka
- Florian Pumhösl
- Bernd Ribbeck
- Gerwald Rockenschaub
- Anton Romako
- Anja Ronacher
- Wally Salner
- Christian Schwarzwald
- Johannes Schweiger
- Martina Steckholzer
- Edward Steichen
- Rudolf Stingel
- Gerold Tagwerker
- Rosemarie Trockel
- Esin Turan
- Salvatore Viviano
- Johannes Vogl
- Maja Vukoje
- Rebecca Warren
- Christoph Weber
- Letizia Werth
- Franz West
- Sue Williams
- Robert Wilson
- Erwin Wurm
- Otto Zitko
- Heimo Zobernig
Lili Reynaud-Dewar
»I am intact and I don‘t care«
21er Raum im 21er Haus, Wien
20. März — 14. April 2013
Lili Reynaud-Dewar interessiert sich für Identität. Ihre eigene wird dabei genauso Thema wie komplexere kulturelle Stereotypen. Sie verhandelt Mythisches, Historisches und Biografisches auf einer Ebene und legt formale, fiktionale wie auch symbolische Potentiale frei. Research und Performanz sind dabei ihre Werkzeuge, und das Bühnenbildhafte ihre Sprache.
Seit Jänner ist Reynaud-Dewar Artist in Residence des Belvedere. Während ihres Aufenthalts entwickelte sie eine Reihe neuer Arbeiten, die sie nun im 21er Raum präsentiert. Entstanden ist ein Ensemble aus Einrichtungsgegenständen, die der Idee eines Schlafzimmers recht nahe kommen.
»Was wenn das Künstlerdasein dazu führt nicht seinen eigenen Raum, sondern viele eigene Räume von vielen Selbsts zu haben? Viele idente Schlafzimmer, dekoriert mit Blumen, Früchten und Flüssigkeiten. Es würde auch bedeuten, sich selbst sichtbar und verfügbar zu machen, immer irgendwie greifbar, auf einen Blick. In meinen vielen identischen Schlafzimmern blute ich, tanze ich, arbeite ich, weine ich. Ich bin nicht mehr privat: alles ist zur Schau gestellt. Man sagt wir wären in einer Zeit der Sichtbarkeit angekommen. Das zieht Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung mit sich. Meine Schlafzimmer sind ein Zyklus, mein Körper ist ein Material, zugänglich über Flat Screens, meine Gedanken werden wiederverwertet. Zersetzung tritt ein. Erschöpfung tritt ein. Zerstreuung tritt ein.
Der Springbrunnen ist eine Hommage, sogar ein Monument, oder eine Metapher für die Schriftsteller, die ihr eigenes Leben als Quelle für ihr gesamtes Werk verwenden. All jene die sich Geschichten, Fabeln, dem Erfinden von Charakteren und Handlungen, den Protokollen der Fiktion und … den Metaphern verweigern. Einer von Ihnen, Guillaume Dustan, beschrieb sein intensives – und repetitives – Sexualleben mit akkurater Präzision. Er prägte einen Begriff für sein bevorzugtes Genre: „Autopornobiography“. In seinen Büchern blutet, tanzt, arbeitet und weint auch er. Sein letztes Buch hat den Titel „Premier Roman“ (Erster Roman). Sein erstes Buch heißt „Dans ma chambre“ (In meinem Zimmer). Mein Raum ist diesem Buch gewidmet. Obwohl Dustan nicht viel gelesen wurde, beeinflusste er doch eine Generation junger Franzosen (eventuell nur Pariser). Sein Bild zirkulierte auf vielen Schirmen – wie zum Beispiel jenes im Fernsehen, wo er gerne mit Perücken auftrat – aber schlussendlich zirkulierte es nicht mehr, wahrscheinlich weil es unangemessen wiederholt und abgewertet wurde, und das auf unangemessene Art und Weise. Aber, wenn man will, kann man die Videos seiner Fernsehauftritte endlos auf seinem persönlichen Schirm ablaufen lassen.
Das Schlafzimmer in dem Sie gerade stehen ist nach den Notwendigkeiten seiner Zirkulation und Reproduktion geplant worden. Ja, es wird wiederholt. Kleine Änderungen wird es in den kommenden Versionen geben. Vielleicht ein geringfügig größeres Bett, ein paar Bilder von Männern beim Sex hinter den bunten Panelen, ein Bildschirm der in einem geheimen Schränkchen steckt, ein Springbrunnen mit bunter statt schwarzer Farbe. Oder vielleicht wird es einfach wiederholt wie es ist, als Kopie seiner selbst, ein bisschen aberwitzig. Und irgendwann wird es nicht mehr zirkulieren, wahrscheinlich weil es wiederholt und abgewertet wurde, und das auf unangemessene Art und Weise.« (L.R.-D.)
Lili Reynaud-Dewar lebt und arbeitet in Paris und Grenoble. Ihre Arbeiten waren zuletzt u. a. zu sehen bei Magasin, Grenoble, 2012, im Bielefelder Kunstverein, Bielefeld, 2011 sowie in der Kunsthalle Basel, 2010. Darüber hinaus hat sie an zahlreichen internationalen Ausstellungen teilgenommen, darunter La Triennale, Palais de Tokyo, Paris, 2012, The End of Money, Witte de With, Rotterdam, 2011 sowie Elles@centrepompidou, Centre Pompidou, Paris, 2009. Für das Jahr 2013 sind Einzelausstellungen im Kunstraum Innsbruck und in Le Consortium, Dijon sowie die Teilnahme an der Lion Biennale geplant.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Adriana Lara
»Less is More«
21er Raum im 21er Haus, Wien
24. September — 26. Oktober 2014
Adriana Laras Interesse gilt dem Zusammenspiel zwischen den Dingen in der Welt, ihrer Erscheinung, ihrer sprachlichen und symbolischen Repräsentation und den Problemen die sich dadurch auftun. Wie die Ordnung der Dinge und der Zeichen als Systeme korrelieren, stellt sie mit ihren Ausstellungen modellhaft nach und reicht die Frage nach Deutung und Bedeutung an die Besucher weiter. Sie verfolgt dabei eine recht spielerische, postkonzeptuelle Praxis, bei der die Inhalte gleichberechtigt mit ihren Objekten und deren sinnlichem Erleben sind und je nach Problemstellung in den unterschiedlichsten Materialien und Medien umgesetzt werden.
Das Umsetzen von Arbeiten ist nun thematischer Dreh- und Angelpunkt ihrer Ausstellung im 21er Raum. Was bedeutet Produktion, was bringt sie mit sich? Jedenfalls scheint die dreimonatige Residency, die Adriana Lara in Wien verbracht hat, den nötigen Abstand gegeben zu haben, sich mit Fragen wie dieser und den Erwartungen den Künstlerinnen und Künstlern gegenüber auseinanderzusetzen. Aber schauen wir uns einmal an, was die Künstlerin bei dem Versuch, den Produktionserwartungen nicht unmittelbar Folge zu leisten, schließlich umgesetzt hat.
Da wäre zuallererst eine Seitenfolge in einem Magazin, das sie auf einem Podest ausgebreitet hat. Darauf zu sehen ist eine lange Zahl, die mit einer Null und einem Komma beginnt, und nach einer endlosen Folgen von Nullen mit einer Eins endet. Die Arbeit ist mit »Less is More« betitelt, und gab auch der Ausstellung ihren Namen. Ganz buchstäblich sinkt der Wert der Zahl mit der Anzahl der Nullen, die Reduktion des Werts hat also ein Anschwellen der Seitenzahl zur Folge und damit auch ein Ansteigen der Kosten ihrer Anzeigenschaltung. Diese Geste von Produktion repräsentiert fast nichts. Sie beschreibt zwar ein Verhältnis, aber eines, das so gering ist, das die Idee und ihre Materialität keinen Zusammenhang zu einer damit beschriebenen Realität mehr herstellen kann. Dieser Bruch zwischen einer Idee und ihrer Wirklichkeit verweist aber auch auf mehrere »Less is More«-Problematiken. Etwa die, dass je mehr Menschen wir sind, desto weniger für den Einzelnen zur Verfügung steht. Oder das Phänomen der Reduktion auf das Wesentliche, dem Design- und Lebensstrategien unbeschränkt zu folgen scheinen. Selbst die Kunst und ihr Markt folgt dem Prinzip, mit der Folge der Steigerung von Nachfrage und Wert für die verbleibenden und einem guten, genügsamen, nachhaltigen Geschmack verpflichteten Objekte.
In diese Richtung sind auch die Toilettensitze zu interpretieren. Sie sind auf einer Höhe der Wand entlang angeordnet und ganz so gehängt, wie man es mit Kunst eben macht. Ihre Präsentation als Kunstobjekte spielt einerseits auf Marcel Duchamps »Fountain« an, und dessen Reduktion der Produktion auf ein Konzept bzw. eine Idee. Andererseits referenzieren die Plastikobjekte das symbolische Kapital der Institution, also das Erzeugen von Wert und Bedeutung durch Strukturen der Legitimation. Ganz buchstäblich liegt unter dem Toilettendeckel, der sich wie monochrome Malerei gebärdet, eine Null, die nur mehr visuell zu gebrauchen ist bzw. als Rahmen gesehen den Blick auf die Wand selbst richtet. Und das vor dem geistigen Auge bei den normalen Museumswänden, aber auch physisch bei einer schrägen Wand die die Künstlerin hier einziehen hat lassen.
Diese architektonische Geste – man ahnt es bereits – verkleinert den Raum, um gleichzeitig den Blick unter den Deckel – auf die Null, und wiederum die Wand darin – freizugeben. Ein reduktiver Akt der Produktion also auch hier, oder optimistischer gesagt eine produktive Reduktion. Die Neigung der Wand wiederholt sich in einer Fotografie. Auf ihr ist eine Porzellanfigur zu sehen, die etwas missraten ist. Sie kann nicht stehen, aber dieser Produktionsfehler macht sie einzigartig und interessanter als die rein dekorativen Figuren. Ihrer Funktion als verkäufliches Objekt beraubt, erhielt sie die neue Funktion als Anschauungsobjekt im Porzellanmuseum im Augarten und erhält symbolisches Kapital zugesprochen. Dieses transformatorische Moment ist auch Inhalt des Videos, das Lara im Kunsthistorischen Museum abgefilmt hat und den Prozess beschreibt, wie gefundene Objekte ins Museum kommen. Das Gegenteil dazu ist eine Kiste, gehängt wie ein Bild, und gefunden im Museumsdepot – auch hier wird an strukturell bedingte Transformationsprozesse erinnert.
Während hier also das Verhältnis von Produktion und Reduktion ausgelotet wird, die Deckungsgleiche von Bedeutung und Bedeutsamkeit nur rhetorisch bejaht wird und die Legitimation des Wesentlichen als strukturelles Phänomen skizziert wird, bleibt die Frage ob weniger tatsächlich mehr ist, offen. Sie wird an die Besucherinnen und Besucher weitergeleitet, genauso wie die Frage danach, ob Adriana Laras Versuch erfolgreich war, mit den angenommenen Erwartungshaltungen ihr gegenüber zu brechen.
Adriana Lara wurde 1978 in Mexico City geboren, wo sie auch lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied von »Perros Negros«, einem 2003 von ihr mitgegründeten kuratorischen Kollektiv. Darüber hinaus ist sie Herausgeberin des vierteljährlich erscheinenden Magazins »Pazmaker« und Teil der Band »Lasser Moderna«. Ihre Arbeiten waren zuletzt u.a. in folgenden Ausstellungen zu sehen: »Let‘s Not Jump Into Concrete«, Indipendenza, Rom (solo, 2014); Marrakech Biennale 5 (2014); Documenta 13, Kassel (2012); »NY-USA«, Algus Greenspon, New York (solo, 2012); »S.S.O.R.«, Kunsthalle Basel (solo, 2012); und »Scryyns and Interesting Theories«, Air de Paris, Paris (solo, 2012).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Anna-Sophie Berger
»let rise, let go«
21er Raum im 21er Haus, Wien
6. — 30. November 2014
Betritt man die Ausstellung von Anna-Sophie Berger im 21er Raum, nimmt man rasch einen Duft wahr: und zwar den Duft von frisch gebackenem Brot, das an mehreren Stellen im Raum auftaucht. Brot als Grundnahrungsmittel steht für das Stillen elementarer und existenzieller Bedürfnisse – nicht von ungefähr spricht man vom Broterwerb und dem täglich’ Brot. Es ist Symbol für das Aufkeimen menschlicher Kultur, ist religiöses Sinnbild und steht für die Ernährung, genauso wie es Soziales impliziert.
Bei Anna-Sophie Berger ist es auch ein Mittel zur Entschleunigung, das der eigenen Entwurzelung entgegenwirkt: Die Künstlerin reist durch die Weltgeschichte und ist kaum mehr als eine Woche an einem Ort. Brot selbst backen, und das gemeinsam mit ihrer Mutter, ist da ein guter Gegenpol zum Alltag der Digital Native. Brotmachen ist aber auch etwas, das dem klassischen skulpturalen Schaffen nahe kommt, wenngleich die Objekte ephemer sind. Sie sind nicht auf Haltbarkeit hin angelegt und erhärten mit zunehmender Dauer der Ausstellung. Danach werden sie zerkleinert und an Tiere verfüttert – der Kreislauf wird also geschlossen.
Die Brote stehen in ihrer organischen Labilität für eine unmittelbare Realität und in einem Gegensatz zu den Stoffbahnen mit ihren Motiven. Diese, gedruckt auf verschiedene Polyesterstoffe, die natürliche Textilien imitieren, beziehen sich ebenso auf das Leben der Künstlerin. Sie stammen aus einer Vielzahl von mit dem Mobiltelefon aufgenommenen Schnappschüssen, mit denen Berger ihren Alltag fragmentarisch dokumentiert. Sie selbst beschreibt die Bilder als „visuellen Output oder Illustration von Denkprozessen“ und sieht die Stoffrollen als „Versuch, sich mit Material und Information auseinanderzusetzen“.
Die bis zu 20 Meter langen Stoffbahnen wiederholen jeweils ein Motiv, das dadurch mit Bedeutung aufgeladen wird. Durch das Pixelrauschen werden die vergrößerten Bilder poetisch, vermitteln Nähe, verklären jedoch eher, als dass sie eine Situation dokumentieren. Abgebildet sind eine Schachfigur aus dem Cloisters-Museum in New York, Edelsteine aus dem Wiener Naturhistorischen Museum, Molekularküchenkost und Eierschalen. Die Wahl der Motive ist nicht beliebig. Einerseits sind ganze und fragmentarische Objekte dargestellt, andererseits natürliche oder kulturelle Artefakte und Bilder von Nahrungsmitteln oder Gerichten. Die Gegenüberstellung spiegelt auf der einen Seite die Wahrnehmung eines bestimmten Raumes wider, den Berger als Künstlertouristin einnimmt, und andererseits die tägliche Ernährung, unabhängig von einem spezifischen Umfeld.
Beide Bereiche sind voller zeitgenössischer Zweifel und Fragen nach kultureller Verwurzelung, Internationalität, Identität, Standort, Geopolitik und moralischer Haltung – ähnlich wie die Sätze und Satzfetzen auf den Glasarbeiten. Als Notizen in einem ähnlichen Zeitraum wie die Fotos entstanden, zeugen sie von einer Zerrissenheit, einem Schwanken zwischen den Möglichkeiten. Es sind Fragmente von Gedanken, die den Alltag bestimmen.
Was soll man essen, wenn sich persönliche Gefühle und soziale Prägung genauso im Konsumverhalten ausdrücken, wie es ökologische und ethische Überlegungen tun sollten, während man die finanziellen Möglichkeiten im Auge behalten muss? Wie können Bedürfnisse nachhaltig befriedigt werden, wofür kann man noch Verantwortung übernehmen? Und in welchem Verhältnis soll das Leben zu seiner virtuellen Repräsentation stehen?
Bergers Ausstellung im 21er Raum setzt sich mit den komplexen Verflechtungen zwischen sozialen Bedürfnissen, politischer Verantwortung und ökonomischer Wirklichkeit auseinander. Das Verlangen nach bestimmten Dingen scheint das Vermögen, eigene Entscheidungen hinreichend abzuwägen, zu übersteigen. Die Unmöglichkeit, das Richtige zu tun, spiegelt sich so in einem Leben zwischen Widerstehen und Nachgeben, kalt und warm – Seide und Baumwolle. Während Bergers Arbeiten versuchen, eine Balance zwischen der Immaterialität der digitalen Welt und einer immer noch physischen menschlichen Existenz auszuloten, verhandeln sie letztlich auch, was Material eigentlich ist. Was sind die Form und Textur eines Bildes? Alle Motive in der Ausstellung stellen spezifische physische Texturen dar, die durch ein digitales Verfahren gegangen sind, um schlussendlich auf Materialien gedruckt zu werden, die ihrerseits künstliche Repräsentationen von natürlichen Oberflächenqualitäten sind. Wenn Sie nun ob des Status der daraus entstehenden Produkte verwirrt sind, hat Anne-Sophie Berger Sie genau da, wo sie Sie haben will: beim Sich-selbst-in-Relation-Setzen zu einer Welt im Umbruch, die aufgrund einer Ununterscheidbarkeit von Ding und Abbild immer schwerer greifbar wird.
Anna-Sophie Berger arbeitet mit den Eigenheiten von Material und Produktion, dem Kontext der daraus hervorgehenden Objekte und deren Distribution. Sie spielt mit den Grenzen zwischen Disziplinen und setzt fließende Übergänge ein, um einen Blick hinter die Oberflächen des Alltags im 21. Jahrhundert zu werfen. Ihr Interesse gilt der täglichen Spannung zwischen materieller Realität, den sinnlichen Bedürfnissen eines sozialen Wesens und dem zunehmend digitalen Wahrnehmen des Lebens.
Anna-Sophie Berger wurde 1989 in Wien geboren, wo sie auch lebt und arbeitet. Ihre Arbeiten waren zuletzt in Ausstellungen bei Mauve (Wien), JTT (New York), Mathew (Berlin), Futura (Prag), Tanya Leighton (Berlin) und Clearing (Brüssel) zu sehen.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Zin Taylor
»Foto
Studio
Zig-Zag«
21er Raum im 21er Haus, Wien
4. Dezember 2014 — 11. Jänner 2015
Zin Taylor war von Oktober bis Dezember 2014 als Artist in Residence vom 21er Haus nach Wien eingeladen. Als Artist in Residence hat man die Möglichkeit, einmal auf Distanz zum eigenen Alltag zu gehen um in einem neuen, leeren Atelier ungestört und frei arbeiten zu können, und dabei noch Wien und seine Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen. Diese Situation hat der gebürtige Kanadier genutzt und darauf aufgebaut. Was seit den 1960ern als Post-Studio-Practice bekannt ist, also das Produzieren von Kunst abseits von Ateliersituationen, ist dabei eher das Gegenteil davon, was Taylor betreibt. Und das, obwohl er eher der Konzeptkunst zuzurechnen ist, die diesen Begriff einst geprägt hat.
Zin Taylor arbeitet normalerweise mit Skulptur, Text, Zeichnung, Collage, Video und Audio. Sein formales Grundvokabular ist abstrakt und minimalistisch: Überwiegend in Schwarz und Weiß gehalten, sind seine Arbeiten oft mit Punkten und Streifen versehen. Allerdings sind die Strichte und Punkte zwar abstrakt, aber nur so abstrakt wie Zeichen eben sind.
In der Linguistik spricht man von Signifikat und Signifikant, also dem Bezeichneten und dem Wort selbst, das etwas bezeichnet. Zwischen der Form des Ausdrucks und seiner Bedeutung besteht kein zwingendes Verhältnis, außer die Gewohnheit bzw. gesellschaftliche Übereinkunft über einen Verweis. Und so verwendet Tayler seine Streifen und Punkte als eine Visualisierung von Sprache und ihrer Performanz und lässt ansonsten abstrakte Zeichen zu Symbolen für Kommunikation werden. Die Ausgangsfrage ist also, wie Objekte Gedanken übersetzen und wie Ideen in Dingen manifest werden können.
Mit diesem Vokabular im Handgepäck ist Zin Taylor nach Wien gekommen. Und wie es sich für einen konzeptuellen Künstler gehört, hat er sich auch gleich ein Projekt ausgedacht, das auf den Ort eingeht - allerdings nicht auf den Ausstellungsort, sondern das Residency-Studio. Dort hat er begonnen Objekte aus Ton, Draht und Papiermaschee anzufertigen und zu zeichnen. Auf das was entstanden ist, hat er dann reagiert und wieder neues geschaffen – er hat sich sozusagen vom Material leiten lassen, versucht es sprechen zu lassen um daraus Formen zu generieren, ganz so wie man es aus der klassischen Skulptur kennt. Diesmal geht es bei ihm um die Sprache von Produktion, der Form die sich über unzählige Gedanken verselbständigt und einen Dialog mit dem Künstler eingeht.
Diese aus diesem Prozess hervorgehenden Formen nennt der Künstler „Units“, eine Formulierung die Taylor nutzt um, wie er es sagt, „describe the translation of ideas about a subject into a form about a subject. Units are what exist in physical space after the thinking and abstracting settles into shape. They are a way of handling information. The insinuation is that a thing, like a narrative, is made of many units—like how letters are used to produce words, words are used to produce a sentence, and then a statement.“
Die Elemente die im Studio entstanden sind, hat er schließlich in unterschiedlichen Kombinationen und Formationen arrangiert und fotografiert. Herausgekommen sind keine Objekte, die Ideen sind, sondern eine Geschichte über die Entstehung und Verwicklung von Gedankenströmen – eine Fotoserie über die Produktion von Dingen, wie sie gedacht werden können, nicht wie sie scheinen. Als permanent zu verhandelnde Gegenstände sind sie die Protagonisten von Taylors Narration über die Sprache von Form, und in diesem Fall einer Metanarration über die Sprache von Form mit der ein Künstler während seiner Residency zu ringen hat.
Zin Taylor wurde 1978 in Calgary, Kanada geboren und lebt und arbeitet in Brüssel. Taylor hatte Einzelausstellungen in Europa und Nordamerika. Seine Texte und Künstlerbücher erschienen bei Sternberg Press (Berlin), Bywater Bros. Editions (Port Colborne), Mousse Publishing (Mailand), Karma (New York) und Artforum (New York).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Salvatore Viviano
»I never liked being in bed alone«
21er Raum im 21er Haus, Wien
4. Februar — 6. April 2015
Salvatore Viviano ist immer gut für eine Überraschung. Seine Überraschungen sind meist Performances, bildhafte und skulpturale Objekte, Fotografien und Installationen – oder eine Mischung aus all dem. Im 21er Raum hat der Künstler zunächst einmal den Raum verkleinert. Wenn man den Raum betritt, steht man einer korallenfarbigen Wand gegenüber, in der eine kleine Öffnung ausgespart wurde. Zwei Bilder hängen an den anderen Wänden, auch eine Nummer wurde auf eine geschrieben, und ein Plüschtier sitzt in einer Raumecke. Der Teddybär hat einen Pullover an, auf dem „Call Me Maybe“ steht – eine Referenz auf einen Popsong von Carly Rae Jepsen und das dazugehörige Video, als auch eine Aufforderung anzurufen. Wen man (vielleicht) anrufen soll, ist nicht ganz klar, aber eine Telefonnummer ist mit Filzstift an die Wand geschrieben.
Das kleinere der beiden Bilder zeigt eine idealisierte Flamme bzw. das Logo von Tinder. Das ist eine App für Smartphones, die auf spielerische Weise Dates mit Gleichgesinnten vermittelt. Auf dem zweiten Bild ist eine glückliche Familie im Bett zu sehen. Die Gesichter des Werbesujets hat Viviano mit seinem eigenen überdeckt und ist nun im Bett mit sich selbst.
Da wäre dann noch diese Öffnung in der Wand. An deren Schwelle steht eine Aufforderung, die Schuhe auszuziehen. Einmal drinnen, kann man unter einer relativ niedrigen Decke zu einer weiteren Öffnung kriechen. Dort durchgeschlüpft, findet man sich in einem riesigen Bett wieder. Darauf sind Polster und Decke, eine Menge Bücher und ein Walkman, Kalender und Poster. Salvatore Viviano hat es sich gemütlich eingerichtet, aber auch allen Besuchern. Wir sind aufgefordert, das Bett auch zu benutzen – also eine Auszeit zu nehmen und in seiner Liegewiese abzuhängen. Und das nicht nur alleine, sondern gemeinsam mit anderen. Denn der Künstler sieht das Bett nicht als einen Privatraum, sondern als sozialen Raum. Und diese Ansicht möchte er natürlich mit uns teilen.
Es geht also um menschliche Beziehungen und das Herstellen einer Situation, die niederschwellig Interaktion ermöglicht – ähnlich wie es Tinder und ähnliche Apps heute tun. Darüber hinaus ist die Installation das Zeichen einer modernen Melancholie und eine Hommage an das Lieblingsmöbel von Salvatore Viviano, der in seiner im Mai 2014 eröffneten One Work Gallery auch ein Bett aufgestellt hat: “Betten faszinieren mich, ich liebe sie! Ich denke, das Bett ist die beste Erfindung, die es gibt. Viele wichtige Dinge passieren in Betten. Als Künstler hat man viele Ideen im Bett, man schläft, man isst, man hat Sex im Bett. Und es ist einfach ein bequemer Rückzugsort. In einer Galerie zu arbeiten bedeutet vor allem: warten, sitzen, telefonieren, lesen. Ich wollte nicht den ganzen Tag an einem Tisch sitzen.“
Salvatore Viviano wurde 1980 in Palermo geboren und lebt und arbeitet seit 2008 in Wien. Performances und Ausstellungen von Viviano waren unter anderem schon im Ve.Sch (Wien, 2009), bei Pro Choice (Wien, 2010), L’Ocean Licker (Wien, 2011), 68 m2 (Kopenhagen, 2011), Global Talks (Stockholm, 2012), Glockengasse 9 (Wien, 2012), 21er Haus (2013), Albertina (2013), Limbo (Kopenhagen, 2014) und Mauve (Wien, 2014) zu sehen. Seit Mai 2014 betreibt er am Wiener Getreidemarkt die One Work Gallery. Als er sieben Jahre alt war, bat er seine Mutter mit ihm zum Zirkus zu gehen, die darauf antwortete: “Wenn sie dich sehen wollen, müssen sie schon selbst kommen”.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Rosa Rendl
»What You Desire«
21er Raum im 21er Haus, Wien
15. April — 7. Juni 2015
Begehren und Begierde, die Sehnsucht nach etwas, ist der Zustand, um den es hier geht. Und es ist ein Zustand, in dem man sich heute permanent befindet: Ständig wird Begehren von der Welt geweckt, die uns umgibt. Wir sind mit verführenden Bildern konfrontiert, die ein anhaltendes Verlangen erzeugen, genauso wie wir selbst zu Erzeugern dieser Bilder geworden sind. Social Media, die „sozialen Medien“, sind ein Ort geworden, an dem am laufenden Band Reize produziert werden. Dort reproduzieren wir uns ständig neu, positionieren uns, und wecken Sehnsüchte – denn wir begehren nicht nur, sondern wollen auch begehrt werden.
Der virtuelle Raum ist allerdings kein physischer Raum, sondern ein medialer. Das heißt zwischen dem was wir begehren und uns ist ein Filter. Man betrachtet die Welt durch ein Fenster aus kaltem Licht. Diese Wahrnehmung der Welt ist alltäglich geworden: Man verbringt einen großen Teil der Zeit im Internet, geht mit dem Computer schlafen, der einen selbst aufgrund von Algorithmen besser zu kennen scheint, als die engsten Freunde.
Zu Laptop, Smartphone und Tablet hat man eine Beziehung aufgebaut, die sehr intim ist. Man berührt die Geräte, um sie zu bedienen, streicht mit den Fingern durch Inhalte, als würde man sie streicheln – auch wenn es nur Oberflächen von Dingen sind, die wir hier anfassen. Die haptische Qualität trägt dazu bei, ein anderes Verhältnis zu diesem Medium aufzubauen, als man es etwa mit dem Fernsehen hat. Es ist unmittelbarer, und die Grenzen zwischen physischer und virtueller Welt erscheinen fließend. Das wird zusätzlich durch die zirkulierenden Bilder unterstützt, die uns so im analogen Leben nur bedingt begegnen.
Diese Bilder vermitteln Nähe und scheinen vertraut. Sie sind mit Smartphones aufgenommen, oft leicht verwackelt und zelebrieren ihre Beiläufigkeit. Das Alltägliche wird über sie repräsentiert, während das Besondere in sie eingebettet ist. Katzen und Hunde sieht man da, vor allem aber Menschen. Beim Posieren, Erleben oder Rumhängen sind sie in einer Bildsprache aufgenommen, die so leicht zu lesen wie sie zu erzeugen ist. Die Demokratisierung der Fotografie und deren damit einhergehender Aufstieg zum Kommunikationsmedium hat eben auch die Möglichkeit alltäglicher Bilder gebracht, die zwar nicht für die Nachwelt gedacht sind, aber Platz für die leisen Zwischentöne schaffen.
Rosa Rendl zeigt in ihrer Ausstellung auch eine Serie von Fotos, die sie mit dem Smartphone geschossen hat. Deren Seitenverhältnis ist das eines iPhone-Touchscreens und das charakteristische Farbrauschen haben sie ebenso. Darauf zu sehen sind kleine Gesten wie Berührungen, eine Momentaufnahme beim Filmschauen im Bett, der Ausschnitt eines Körpers, das Smartphone, das auf dem Bett liegt, ein Blick durch die Oberschenkel, natürlich ein Selfie, eine Seidenblume, Essen auf dem Bett, der eigene Schatten an der Wand, sowie eine Katze. Es sind inszenierte Fotografien, die sich auf die Bildsprache der sozialen Netzwerke einlassen, oder besser gesagt: sie nachempfinden.
Sie umkreisen das zeitgenössische Leben in seiner Gespaltenheit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Präsenz und Virtualität. Das nach-außen-dringen des Privaten definiert heute Privatsphäre neu, gleichzeitig ermöglicht es Anonymität und Untertauchen in einer großen Masse. Und doch sitzt man physisch irgendwo, während man im Internet ist. Oft ist das zu Hause und eine gemütliche Angelegenheit. Man kann im warmen Bett bleiben, während man virtuell weit weg ist. Aber man ist nicht ganz zufrieden. Denn das Begehren wird geweckt, aber nicht so unmittelbar befriedigt, wie die Bildwelten es suggerieren. Die Berührung des Touchscreens reicht nicht, es bleibt eine Sehnsucht nach Realität, jenseits ihrer Darstellung.
Bei Rendl sind die Fotografien nicht nur sensibel und intim, sondern erzählen auch vom Auflösen von Grenzen. Teilweise beidseitig bedruckt, stellen sie außerdem eine Welt über den glänzenden Oberflächen dar – etwa herumliegende Zigaretten, loderndes Feuer oder eine über den Screen wischende Hand. Beide Ebenen verschmelzen zu einem Bild, der inszenierte Alltag wird eins mit der nicht minder inszenierten Realität darüber. Hier verschwimmt, was heute immer mehr ineinander übergeht: das digitale und das analoge soziale Leben. Es entwickelt sich eine Distanz zum eigenen Körper, den man immer mehr als Werkzeug sieht, aber trotzdem berührt haben will, während man im Licht der Screens auf Tag-Nacht-Rhythmen vergisst. Egozentrik und Isolation halten sich die Schwebe mit einer Sehnsucht nach Nähe. Und das Begehren und die Begierde sind das Einzige, das übrig bleibt, sowohl in Rendls Spiegelbild unserer Bildwelten als auch einer Welt, in der Wahrheit und Trugbild im Zusammenspiel neue Realitäten schaffen.
Rosa Rendl wurde 1983 geboren und lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt waren ihre Arbeiten in den Ausstellungen „How Alive Are You“, Bar Du Bois, Wien (2014), „Let’s Mingle“, Franz Josefs Kai 3, Wien (2014) und „Rendl-Wittmann & Buschmann“, Parallel Fair Vienna, Wien (gemeinsam mit Adrian Buschmann, 2014) zu sehen. Mit Daphne Ahlers tritt sie seit 2010 als Lonely Boys auf. Zuletzt performten die beiden u.a. im Künstlerhaus – Halle für Kunst und Medien, Graz (2015) und im Kunstraum Niederösterreich, Wien (2014).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
»Fotos«
Österreichische Fotografien von den 1930ern bis heute
21er Haus, Wien
30. Jänner — 5. Mai 2013
C. Angelmaier, Herbert Bayer, Gottfried Bechtold, Norbert Becwar, Arthur Benda, Martin Bruch, Rosa Brueckl / Gregor Schmoll, Clegg & Guttmann, Herbert de Colle, Plamen Dejanov & Svetlana Heger, Inge Dick, Gerald Domenig, Andreas Duscha, Thomas Freiler, Padhi Frieberger, Bernhard Fuchs, Seiichi Furuya, Walter Gamerith, Robert Gruber, Eva Grubinger, Manfred Grübl, Harald Gsaller, Ernst Haas, Maria Hahnenkamp, Robert F. Hammerstiel, Matthias Herrmann, Richard Hoeck, Kathi Hofer, Christine Hohenbüchler, Edgar Honetschläger, Dieter Huber, Franz Hubmann, Gerhard Jurkovic, Werner Kaligofsky, Eleni Kampuridis, Leo Kandl, Barbara Kapusta, Herwig Kempinger, Erich Kofler Fuchsberg, Peter Kogler, Paul Kranzler, Richard Kratochwill, Elke Silvia Krystufek, Erich Kuss, Heimo Lattner, Paul Albert Leitner, Branko Lenart, Ernst Logar, Dorit Margreiter, Michael Mauracher, Ursula Mayer, Michael Neumüller, Martin Osterider, Michael Part, Helga Pasch, Hermes Payrhuber, Pascal Petignat & Martin Scholz-Jakszus, Friederike Pezold, Norbert Pfaffenbichler, Barbara Pflaum, Cora Pongracz, Ferry Radax, Anja Ronacher, Constanze Ruhm, Didi Sattmann, Christoph Scharff, Klaus Scherübel, Alfons Schilling, Michael Schuster, Günther und Loredana Selichar, Lucie Stahl, Hermann Staudinger, Alexander Stern, Ingeborg Strobl, Octavian Trauttmansdorff, Herwig Turk, Nadim Vardag, Christian Wachter, Peter Weibel, Manfred Willmann, Erwin Wurm, Michael Ziegler, Heimo Zobernig; kuratiert von Severin Dünser und Axel Köhne
Fotografie ist überall. Nicht nur in der Kunst als Medium längst anerkannt, ist sie mittlerweile ein populäres Kommunikationsmittel. Und genauso, wie uns Fotografien im Alltag begegnen, zeigt die Ausstellung das Medium: als ungeordnete Flut von Bildern.
Drei Leitmotive liegen der Werkauswahl zugrunde: die Menschen, die Dinge, die uns umgeben, und die Linse zwischen all dem (also die Fotografie selbst). Die ausgewählten Fotografien stellen Fragen nach dem Status des Abbilds, nach der Aura des Fotos, nach der Objektivität der Kamera und ihrer Konstruktion von Wirklichkeit, aber nicht zuletzt auch nach dem spezifisch Österreichischen in der Fotografie – Fragen, die man den Bildern von Angesicht zu Angesicht beantworten muss.
Denn Fotos ist eine Reduktion auf das Wesentliche. Die Motive selbst stehen im Zentrum und müssen uns Rede und Antwort stehen. Insbesondere darüber, ob sie uns hier und jetzt etwas zu sagen haben, ungeachtet dessen, ob sie aus den 1930er-Jahren stammen oder aus der Vorwoche. Es geht also um Bilder und die Potenziale einer Kraft, die jenseits dessen liegt, was ausgesprochen werden kann.
Die Ausstellung zeigt auch einen Ausschnitt aus jenen Sammlungen, in denen sich das Schaffen österreichischer Fotografinnen und Fotografen widerspiegelt: der Artothek des Bundes, der Fotosammlung des Bundes der Österreichischen Fotogalerie und des Museums der Moderne Salzburg sowie natürlich dem Belvedere.
Den Katalog zur Ausstellung kann man hier bestellen.