»Das Begreifen«
Heinrich Dunst, VALIE EXPORT, Franziska Kabisch, Barbara Kapusta, Peter Weibel, Tina Schulz, Javier Téllez
21er Raum im 21er Haus, Wien
30. November 2016 — 22. Jänner 2017
Der Ausdruck „Begreifen“ bezeichnet den Prozess des geistigen Erfassens und wird als Synonym für „Verstehen“ verwendet. Etymologisch lässt es sich von der physisch-haptischen Tätigkeit des Abtastens herleiten – ähnlich dem Begriff „Konzept“, der vom lateinischen „concipere“ abstammt, das wörtlich übersetzt Zusammenfassen bedeutet. Die Ausstellung versucht dem nachzugehen, was in den Begriffen zusammenläuft: manuelle Handlung und intellektuelle Rezeption.
Peter Weibel etwa fragt mit „Das Wort Hand mit der Hand schreiben“ nach der Beweisbarkeit der Existenz von Dingen, Vorgängen und Verhältnissen – und zuallererst von der Hand. Das kommt nicht von ungefähr, wird die Hand doch schon in frühen Kindestagen genutzt, um sich der äußeren Realität zu versichern. In der Bibel etwa wird der ungläubige Thomas mit den Worten zitiert „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“1 Der Philosoph Helmuth Plessner beschreibt unsere Wahrnehmung als „Auge-Hand-Feld“, das dem Menschen mit dem Erlernen des aufrechten Gangs zur Eigenheit wurde: „Das Auge führt die Hand, die Hand bestätigt das Auge“2 Dieses Sehen mit der Hand und die Erfahrung daraus steht auch im Zentrum von Barbara
Kapustas „Soft Rope“. In einem Video ist ein Seil zu sehen, das die Künstlerin mit ihrer Hand erkundet, während sie ihren Eindruck des Vorgangs mit einem Gedicht umreißt. Auch in Javier Téllez’ Film „Der Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (zu sehen im Blickle Kino im Erdgeschoss) geht es um taktile Wahrnehmung. Angelehnt an eine indische Parabel ertasten darin sechs blinde Frauen und Männer einen Elefanten. Alle haben eine unterschiedliche Erfahrung des Tieres, dem sie gegenüberstehen, und ihre Interpretationen decken sich nicht – die subjektiven Wahrnehmungen führen zu keiner objektiven Wahrheit.
Die Hand ist allerdings nicht nur ein Instrument zum Ertasten, sondern auch zum Formen. Richard Serra schuf 1968 den Film „Hand catching lead“. Darin ist eine Hand zu sehen, die versucht Bleistücke zu fangen und dabei zu verformen, bevor sie sie wieder fallen lässt. In Serras Film wird dieselbe Geste repetitiv wiederholt, und es gibt keine geglückten oder misslungenen Produkte die zu erkennen sind. Stattdessen wird auf den Prozess des Machens fokussiert, der Film wird zu einer Metapher für die Bildhauerei selbst. Tina Schulz eignet sich die Gesten des Films an und wiederholt sie – allerdings ohne das Blei. Was übrig bleibt sind die scheinbar ziellosen Bewegungen der Hand, die nur im Vergleich mit dem Originalfilm Sinn ergeben und durch die Reduktion überhöht werden.
Die Hand ist, als Objekt gesehen, ausführender Stellvertreter des Subjekts – im Speziellen wenn das Ich ein Künstler ist, wie etwa Heinrich Dunst. Bei ihm „handelt“ die Hand nicht wie bei Schulz, sondern sie wird angesprochen. „Hello Hand“ sagt Dunst zur Hand, die er wie ein Exponat auf einem Tisch platziert hat. In einem Monolog, den er gleichermaßen an die Hand, den Betrachter und sich selbst richtet, spricht er seinen Körperteilen Funktionen zu, die sie eigentlich nicht primär innehaben. Er beschreibt eine Verhältnisstruktur, die bei der Wahrnehmung anfängt und mit der Kommunikation endet – als Metapher für das Handeln, das das Denken mit der körperlichen Existenz in Balance hält.3
Martin Heidegger schrieb dazu: „Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein. Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. […] Allein das Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche Hand-Werk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt.“4
Und auch VALIE EXPORT bezieht sich in ihrem Video „Sehtext: Fingergedicht“ auf Heidegger, den sie mit „Ich sage die Zeige mit den Zeichen im Zeigen der Sage“ frei zitiert. Sie führt den Satz mit ihren Fingern in „visueller Zeichensprache“ aus, kommuniziert mit Händen (ohne Füsse). „Der Körper kann also dazu benützt werden, sowohl geistige wie körperliche Inhalte mitzuteilen. Der Körper als Informationsträger. Der Mensch ist durch den Körper in die soziale Struktur eingepasst“, führt sie zur Intention ihres Videos aus. Und um die soziale Kommunikation rund um die Hände geht es auch in Franziska Kabischs „Deklinationen (Can I inherit my dead parents’ debts?)“. Ausgehend von den an vielen Universitäten bestehenden Professorengalerien wird darüber nachgedacht, wie sich Wissensproduktion und wissenschaftliche Normen in Haltungen – insbesondere der Hände – manifestieren, wie sie übernommen und fortgesetzt werden. Aus dem universitären Kontext einer Vorlesung stammt auch dieses abschließende Zitat von Martin Heidegger: „Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein mochte.“4
1 Evangelium nach Johannes, 20,25
2 Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“ (1970), Suhrkamp, 2003
3 „ich denk’ und vergleiche, sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand“ – Johann Wolfgang von Goethe, „Römische Elegien“ (1788–1790)
4 Martin Heidegger, „Was heißt Denken?“ (1951–1952), Max Niemeyer Verlag, 1954
»Das Gestische«
Thomas Bayrle, Andy Boot, Christian Falsnaes, Roy Lichtenstein, Klaus Mosettig, Laura Owens, Markus Prachensky, Roman Signer
21er Raum im 21er Haus, Wien
8. September — 20. November 2016
Malerei ist das Auftragen von Farbe auf eine Fläche. Pinselstriche sind die Elemente, aus denen sich ein Bild ergibt. Und um diese Einzelteile, aus denen sich über den Prozess des Malens etwas zusammensetzt, dreht sich diese Ausstellung.
Ausgehend von einer aktuellen Schenkung an das Belvedere – der Malerei Rouges différents sur noir – Liechtenstein von Markus Prachensky – werden Aspekte rund um den Duktus und das Wesen des Gestischen diskutiert. Prachensky hat das Bild 1956/57 geschaffen. Es ist nach der Liechtensteinstraße benannt, wo es in einem gemeinsam mit Wolfgang Hollegha genutzten Atelier entstanden ist (im Übrigen war das auch der Ort, an dem die beiden 1956 gemeinsam mit Josef Mikl und Arnulf Rainer die Gründung der Künstlergruppe „Galerie St. Stephan“ beschlossen). Das Gemälde stammt aus einer ersten Serie von Bildern, in der Prachensky mit roter Farbe auf schwarzem Grund malte – wobei die Farbe Rot zu einem wiederkehrenden Element und zu so etwas wie einem Charakteristikum in folgenden Arbeiten wurde. Das Werk Prachenskys ist ganz dem Informel verpflichtet. Das Informel, das sich Ende der 1940er-Jahre von Paris ausgehend seinen Weg nach Wien bahnte, entwickelte sich als Reaktion auf die geometrische Abstraktion. Mit ihr teilte es eine Ablehnung klassischer Kompositionskonzepte, aber forderte im Gegensatz Formlosigkeit und Spontaneität. So geht es Prachensky vordergründig um das Nachvollziehen eines gestischen Impulses, um die auf die Leinwand übertragene Energie.
Was Prachensky in seinem Bild hervorhebt, ist also das prozessuale Moment in der Bildproduktion –mit all seinen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des Unbewussten. Diese Gesten sind auf dem monochromen Hintergrund klar nachvollziehbar und treten zu diesem in einen starken Kontrast. Sie werden durch ihre Isolation auch selbst zu einem Zeichen, zu einem wiedererkennbaren Symbol der Geste. Ebendieses Zeichen greift Roy Lichtenstein in der Serie der Brushstrokes auf, die zwischen 1965 und 1968 entstanden ist. Darin setzt Lichtenstein einzelne und einander überlagernde Pinselstriche im für ihn typischen Comic-Stil um – ironischerweise mit Öl auf Leinwand, während er auf den Abstrakten Expressionismus Bezug nehmend das spontane Moment gewissermaßen karikiert. Im Fall von Little Big Painting Reproduction wurde die Edition auch noch in eine Chromografie übersetzt. Die industrielle Vervielfältigung führt die Einzigartigkeit von Malerei und persönlichem Ausdruck zusätzlich ad absurdum.
Thomas Bayrle arbeitet mit Reproduktionen und Wiederholungen von Formen, die sich häufig – ähnlich der Pop Art – auf Objekte aus der Konsumkultur beziehen und durchaus gesellschaftskritisch gelesen werden können. Einzelne Bildelemente werden bei ihm durch mechanische und digitale Manipulation verzerrt. Aus ihnen ergeben sich systematische Strukturen, die oft ihre Bestandteile widerspiegeln und so auf die dahinterliegende Logik des Bildermachens verweisen. Für Variationen eines Pinselstrichs hat Bayrle 1989 den Pinselstrich als Ausgangsmotiv genommen. Er hat ihn in unterschiedlichen Verformungen zu einer die Bildfläche füllenden Collage arrangiert, die als Metamalerei die Authentizität des Ausdrucks durch dessen mechanische Wiederholung infrage stellt.
Klaus Mosettig übersetzt seit 2007 Arbeiten anderer Künstler in Zeichnungen. Dafür projiziert er die Werke auf Papier und zeichnet sie in monatelanger Kleinarbeit in unterschiedlichen Grautönen nach, wie man sie aus Druckverfahren kennt. Trotz des aufwendigen Prozesses per Hand hinterlässt Mosettig keine ihm zuordenbare Handschrift. Und dennoch entwickeln seine Arbeiten eine künstlerische Autonomie vom Original. Das hängt auch mit der Zeit zusammen, die er in seine Werke investiert und die bei genauer Betrachtung nachvollziehbar wird. Die Vorlage für Informel 2 war eine Kinderzeichnung. In Analogie zur im Werktitel genannten Kunstrichtung handelt es sich bei der Kinderzeichnung um den Versuch eines unmittelbaren Ausdrucks, um das experimentelle Finden einer persönlichen Bildsprache. Die Rezeption dieser kleinen Geste verändert Mosettig, indem er sie sich aneignet, mit dem Bleistift kopiert und vergrößert.
Roman Signer ist für seine Aktionen bekannt, versteht sich aber als Bildhauer, der Faktoren wie Zeitlichkeit, Beschleunigung und transformative Prozesse auf seine Arbeiten einwirken lässt. Feuerwerkskörper etwa sind ein wiederkehrendes Element in seinem Œuvre, so auch in dem Video Punkt von 2006. Signer nimmt darin vor einer auf einer Wiese aufgestellten Staffelei Platz, taucht einen Pinsel in Farbe und hält ihn vor die Leinwand. Hinter ihm explodiert kurz darauf eine Box – der Künstler erschrickt und setzt dadurch einen Punkt auf die Malfläche. Signers Ergebnis einer gezielten Schreckreaktion entspricht fast buchstäblich der auf die Leinwand übertragenen Energie, wie sie im Informel zur Geltung kommt. Nur dass Signer den Prozess des gestischen Malens überzeichnet, um zu einem für ihn authentischen Ausdruck zu finden.
Andy Boot hat sich schon in früheren Arbeiten mit expressiver Gestik auseinandergesetzt: etwa in der Arbeit e who remained was M, die sich in der Sammlung des Belvedere befindet. Boot lässt in Farbe getauchte Nudeln auf die auf dem Boden liegende Leinwand fallen. Daraus ergibt sich ein neo-abstrakt-expressionistisches Muster, das das gestische Moment ob seiner Absurdität zum Ornament degradiert und dabei das Prozessuale als Illusionismus karikiert. Die Arbeit Untitled (light blue) von 2012 hingegen gibt sich ohne Ironie der Gestik hin. Ein hellblaues Band aus der rhythmischen Sportgymnastik hat er in einem Rahmen drapiert und diesen dann mit Wachs ausgegossen. Aus einem Sportgerät, das Bewegung sichtbar macht, fertigt er also etwas, das an eine abstrakte Komposition erinnert – eine Metamalerei, die auf das Gestische in der Malerei verweist, ohne selbst gemalt zu sein.
Laura Owens ist als Malerin dafür bekannt, gleichermaßen abstrakt und figurativ, sowohl medienübergreifend und -überlagernd als auch mit einer Vielzahl von Referenzen aus Kunstgeschichte, Populär- und Volkskultur zu arbeiten. Kleine Aspekte und Details macht sie oft zu den Zentren ihrer Bilder, wenn sie neue Techniken ausprobiert und dadurch wieder einmal den Stil wechselt. Der Pinselstrich als dekoratives Element und Zeichen tauchte in den letzten Jahren vermehrt in ihren Werken auf, und auch bei Ohne Titel (Clock Painting) von 2013 scheut sie die Nähe zum Dekorativen nicht. In das Gemälde ist ein Uhrwerk eingebaut, ein Zeiger wandert über das Bild. Was in der Malerei steckt, steckt sprachlich auch in der Uhr: Der Zeiger wird im Englischen nämlich mit „hand“ bezeichnet, der Stundenschlag mit „stroke“. So kann der Zeiger durchaus buchstäblich als Metapher für die Hand gelesen werden, der sich beim Malen über die Leinwand bewegt und dabei die Form eines Striches hat, während Owens gleichermaßen auf die Zeit als Faktor in der Bildproduktion anspielt.
Christian Falsnaes’ bevorzugtes Medium ist die Performance. Er arbeitet dabei mit vorgefertigten Skripts denen er mehr oder weniger folgt, und motiviert das Publikum, sich zu involvieren. Es geht ihm um ein Erlebbarmachen von gruppendynamischen Prozessen, aber ebenso um das Bewusstmachen von Ritualen und Verhaltensnormen – im Speziellen auch in der Kunstwelt. Für die Ausstellung erarbeitete Falsnaes eine neue Variation des Stücks Existing Things, in dem das Publikum unter anderem gemeinsam ein Bild malt – mit einem Performer als Pinsel. Mit der Aktion wird individuelle Autorschaft geradezu aufgelöst in einem kollektiven Prozess, von dem dann bunte Pinselstriche in der Ausstellung nachvollziehbar bleiben.
Generell steht der Pinselstrich als eigenständiges Zeichen metaphorisch für die Kunst selbst und lässt sich im zeitgenössischen Kontext vor allem als kritische Anspielung auf den damit verbundenen Künstlermythos lesen. Die Ausstellung zeigt auf, wie sich der Blick auf individuelle Autorschaft, künstlerische Authentizität und Originalität verändert hat. An diesen Kategorien, unter deren Bedingungen wir Kunst wahrnehmen und reflektieren, scheint ein unverändertes Interesse zu bestehen. Allerdings hat sich durch die Möglichkeiten technischer Reproduktion und Medialisierung die Haltung gegenüber dem Wesen des Gestischen in der Malerei gewandelt. Der gestische Ausdruck erhält heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas Unmittelbares, ja erfrischend Körperliches entgegenhalten.
Andy Boot
»Überfläche«
21er Raum im 21er Haus, Wien
14. November — 9. Dezember 2012
Überfläche ist der Titel dieser Ausstellung von Andy Boot. Er suggeriert zwei Dinge: einerseits, dass da etwas ist, was über der Oberfläche liegt, und andererseits, dass dieses Etwas erhaben ist. In einer Gegenwart in der wir ständig von Bildern umgeben sind, dringt der Untergrund immer seltener durch die glänzenden Oberflächen. Nicht der gläserne Mensch ist Realität geworden, sondern das Individuum als mediale Entität. Diese immer stärker verschwimmende Grenze zwischen Sein, Präsentieren und Repräsentieren ist Ausgangspunkt der Beschäftigung Boots mit Oberflächen und Mustern.
Aber was für Flächen sind in Boots Ausstellung zu sehen? Da gibt es das Bacterio Muster, 1978 von Ettore Sottsass entworfen, das sich einer eindeutigen Identifizierung entzieht, und zwischen abstrakt und gegenständlich oszilliert. Der Designer verwendete es als Laminat für seine Memphis Möbel, um Materialität und Struktur zu negieren, und – es als industrielles Muster wiederholend – zur eigenständigen Antiform zu erheben. Boot appliziert das Muster einmal auf eine auf Rollen stehende Skulptur, die selbst aus Trägermaterial – in dem Fall Regalbrettern – besteht, das zweite Mal taucht es als in sich selbst ruhendes Objekt auf: Als pures Laminat, unentschlossen, ob es Material oder Oberfläche sein soll. Bei sharpies thumb ist eine Leinwand recht unprätentiös mit schwarzer Farbe übermalt worden, darüber hat Boot ein Bild kaschiert, das zwei Burschen zeigt, die sich im Zuge eines missglückten Einbruchs mittels Filzstift die Gesichter unkenntlich machen wollten. Die Geste der Übermalung markiert hier in doppelter Weise den schmalen Grat auf dem die Oberfläche wandelt: zwischen Verschönerung und Verschleierung. Auch Ohne Titel spielt auf zwei unterschiedlichen Ebenen darauf an. Zum einen ist der Bronzeabguss eines Makeups in ein Holzbrett eingelassen, die ursprüngliche Funktion dadurch verfremdet und verschleiert. Aber die Oberflächenstruktur des Makeups gibt immer noch den Charakter des Produkts wieder, das da auf die eigene Haut aufgetragen werden wollte. Kein Makeup, eher ein Backup stellt eine weitere Skulptur aus einer Schrankrückwand dar. Sie markiert gleichzeitig das Ende eines Behältnisses und kaschiert den dahinter liegenden Raum. Ähnlich wie eine Leinwandarbeit, die weiß grundiert ist – bis auf ein aufgemaltes X. Als ein aus Grafikprogrammen entlehntes Symbol steht das X als Platzhalter für ein noch zu definierendes Bild, hier also für eine selbstreferentielle Metapher von Acryl auf Leinwand. Eine weitere Definition von Bild und Malerei findet sich in einer hellblau bemalten Leinwand, über die Boot kleine Katzensticker geklebt hat. Das Gestische der Abstraktion wird hier zur reinen Übertünchung der Fläche ironisiert, die Sticker darüber laden dazu ein ihre fellige Oberfläche zu betasten: seine Dekoration will als sinnliche Figuration verstanden werden. Auch die größte Arbeit der Ausstellung schreckt nicht vor einem Seitenhieb auf Pollock zurück. Für e who remained was M lässt Boot in Farbe getauchte Nudeln auf die am Boden liegende Leinwand fallen. Daraus ergibt sich ein neo-abstrakt-expressionistisches Muster, das das gestische Moment ob seiner Absurdität zum Ornament degradiert, und damit dem Illusionismus in seinen Bildern wieder Tür und Tor öffnet. Ähnliches passiert auch bei Untitled (ambassador), einem Betonzylinder, in dessen Oberseite der Innenraum eines Martiniglases (nach einem Entwurf von Oswald Haerdtl) ausgespart wurde – es ist nur noch als Zeichen lesbar und seiner Funktion beraubt.
Die Frage nach dem Status der Oberfläche ist bei Andy Boot ein Reflektieren von Materialitäten und Funktionalitäten. Durch die Transformation von Mustern in Materialien, Gesten und Malerei in Ornamente und Dekoration, und das alles auch vice versa, stellt er die Oberflächen, die wir wahrnehmen, über Form und Funktion. Das Ornament und seine Wiederholung ist bei ihm kein Verbrechen mehr, sondern spiegelt eine Realität wieder. Eine Wirklichkeit in der Sein, sich Präsentieren und sich Repräsentieren zunehmend verschwimmen und selbst das Ich als mediatisierte Entität gedacht und gelebt wird. Das Individuum ist zu einer Leinwand mit möglichst großer Oberfläche geworden, zu einer Überfläche: I am the message, because I am the medium.
Andy Boot, geboren 1987 in Sydney, Australien, lebt und arbeitet in Wien. Dieses Jahr waren Einzelausstellungen von ihm bei Croy Nielsen in Berlin und in der Renwick Gallery in New York zu sehen.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Constanze Schweiger
»Scrollwork«
21er Raum im 21er Haus, Wien
20. Dezember 2012 — 13. Jänner 2013
Die Ausstellung Scrollwork von Constanze Schweiger kreist um verschiedene ästhetische Phänomene in Malerei, Mode und Gesellschaft. Die Künstlerin übersetzt dafür einzelne Elemente aus ihrem Blog (constanzeschweiger.blogspot.co.at) zurück in Ausstellungsobjekte, und die Texte darauf in ein Druckwerk. Wie ein Scrollwork – ein Ornament, das mal einem Blattwerk nachempfunden, mal ein abstraktes Muster sein kann – changiert die Ausstellung zwischen Objekten, die in verschiedene Richtungen weisend dennoch ein großes Ganzes bilden.
Zu sehen ist die Diaprojektion Peppermint, Cheerleader oder Schlechtes Gewissen, die von der Künstlerin angefertigte Farbkarten zeigt. Sie hat dafür das gesamte Spektrum von Acrylfarben, das sie für ihre Malereien verwendet, auf quadratische Karten übertragen, um die Farbigkeit nach deren Austrocknen abschätzen zu können - eine Reflexion von Produktion, deren Titel auf die reiche Suggestivität der Farbnamen verweist. Darüber hinaus liegen am Tisch: Socken von Michael Part, ein Bild von Nicolas Jasmin, ein Foto einer Pflanze vor einem Muster, eine Hose, Farbe auf einem Schuh, zwei Textilien, ein Buch, eine Wanduhr, eine Schallplatte, ein Farbfächer, eine Postkarte und eine ältere Publikation der Künstlerin.
Verbunden werden die einzelnen Exponate durch Schweigers Blog und eine neue Publikation (zur freien Entnahme). Sie enthält Blogtexte zu einzelnen Dingen, und läßt daraus wieder ein All-Over entstehen: ein zusammenhängendes Metaornament - das Scrollwork (dt. Roll- oder Rankenwerk).
Constanze Schweiger, geboren 1970 in Salzburg, lebt und arbeitet in Wien. Ihre Arbeiten waren zuletzt u. a. zu sehen bei school, Wien (2012), im Museum der Moderne Mönchsberg, Salzburg (2012), Kunstraum Niederösterreich, Wien (2011), Ve.Sch, Wien (2011) und Magazin, Wien (2010).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Anja Ronacher
»Void«
21er Raum im 21er Haus, Wien
23. Jänner — 24. Februar 2013
„Ich gehe von der Annahme aus, dass dem fotografischen Bild ein Begehren zugrunde liegt“ sagt Anja Ronacher, und versteht das Begehren dabei als durchaus evolutionäres Resultat archaischer Bedürfnisse. Ebensolche befriedigt das Gefäß, über das Heidegger schreibt: „Die Leere ist das Fassende des Gefäßes. Die Leere, dieses Nichts am Krug, ist das, was der Krug als das fassende Gefäß ist“. Weiters beschreibt er das Ding an sich über Nähe: „In der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen. Doch was ist ein Ding? Der Mensch hat das Ding als Ding so wenig bedacht wie die Nähe“(1).
Die Gefäße auf Anja Ronachers Fotografien sind also in gewissem Sinn Platzhalter für die Leere, für den Signifikanten für den ein Gefäß steht. Und der hat mit unseren elementaren Bedürfnissen zu tun, wir haben sozusagen ein natürliches Naheverhältnis zu diesem Ding. Das trifft ebenso auf Stoff zu, zu dem wir einen vorrangig haptischen Zugang haben. Ronachers Fotografien von Faltenwürfen spielen auf die Absenz eines Körpers an, wenngleich der Textilie Körperlichkeit eingeschrieben ist. „Die Arbeit des Drapierens ist eine langsame Annäherung an eine Form, die zugleich erarbeitet ist und sich ereignet“, und, so Ronacher weiter, „in zweifacher Weise ereignet sich auch die Zeit in Bildern, in der Zeit der Arbeit am Material sowie in der Zeit der Belichtung“. Die Zeit der Belichtung bestimmt die Dunkelheit. Die Arbeit des Drapierens ist Verminderung und Reduktion, „Rückkehr in die Tiefe der Welt“(2), wie Deleuze in einem Aufsatz zu Leibniz anmerkt. In der Fotografie wird die Falte Form ohne Materie, eine „entkörperlichte Ähnlichkeit“(3), wie Maurice Blanchot schreibt. In ähnlicher Weise zeigen die Bilder von archäologischen Objekten, Gefäßen und Gegenständen die gleichzeitige An- und Abwesenheit in den Bildern, in denen auch die Hersteller der Dinge und Draperien unbekannt sind: entpersonalisiert und entautorisiert (was Ronachers Idealbild eines Künstlers entspricht).
Das Objekt kommt vor dem Bild, das Bild wird so der Ort des Verlusts und der Forderung: eine Forderung des Magischen, des Unzeitgemäßen und der Geschichte. „Das Bild lässt sich nämlich nicht durch das Erhabene seines Inhalts definieren, sondern durch seine Form, das heißt durch seine »innere Spannung«, oder durch die Kraft, die es weckt, um eine Leere zu schaffen oder Löcher zu bohren, die Umklammerung der Worte zu lösen, das Hervorsickern von Stimmen zu ersticken, um sich vom Gedächtnis und der Vernunft zu befreien, ein kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen“(4), so Deleuze. Wie die Fotografie ist das Gefäß also in seinem Negativ begründet. Im Gefäß ist dieses Negativ eine Leere, Lücke: „Void“.
(1) Martin Heidegger, „Das Ding“
(2) Gilles Deleuze, „Die Falte - Leibniz und der Barock“
(3) Maurice Blanchot, „Die zwei Fassungen des Imaginären“
(4) Gilles Deleuze, „Erschöpft“, in Samuel Beckett, „Quadrat, Stücke für das Fernsehen“
Anja Ronacher, 1979 in Salzburg geboren, lebt und arbeitet in Wien. Sie studierte Fotografie am Royal College of Art in London und an der Estnischen Kunstakademie in Talinn, sowie Bühnenbild an der Angewandten in Wien. Ihre Arbeiten waren u.a. zuletzt zu sehen bei Beers Lambert Contemporary, London (2012), im Museum der Moderne Salzburg (2010), im Salzburger Kunstverein (2010) und im Fotohof Salzburg (2009).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Sarah Ortmeyer
»KOKO PARADISE«
21er Raum im 21er Haus, Wien
5. Februar — 17. April 2016
KOKO PARADISE ist der letzte Teil eines Ausstellungstriptychons von Sarah Ortmeyer. Zeitlich versetzt, an drei verschiedenen Orten (Paris, New York und Wien) verhandelt die KOKO-Trilogie Eskapismus und Habsucht. KOKO PARADISE zeigt Palmen in trauriger Schönheit.
Sarah Ortmeyer wurde 1980 geboren und lebt in Wien. Ihre Arbeiten waren u.a. im Tel Aviv Museum of Art (2016), im Monnaie de Paris (2015), im Swiss Institute, New York (2014), im Palais de Tokyo, Paris (2013), im Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Gent (2012), im Museum of Modern Art, Warschau (2012), im Frankfurter Kunstverein (2011), im MAK Center, Los Angeles (2010), im Stedelijk Museum Bureau, Amsterdam (2009) und im KW Institute for Contemporary Art, Berlin (2009) zu sehen. Am Valentinstag dieses Jahres eröffnet ein neues Projekt in Kollaboration mit Andrew Wyatt im MoMA PS1 in New York.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Simon Dybbroe Møller
»Lettuce«
21er Raum im 21er Haus, Wien
5. Dezember 2015 — 31. Jänner 2016
Auf alles, was wir schauen, schauen wir mit Fotografie. Wir sehen ein schwarzes Marmorstück, wie es oft in Nassräumen und an Gedenkstätten, in Badezimmern, Küchen und an Gräbern verwendet wird, und nehmen sein Glänzen wahr. So fotografisch. Seht seine weißen Adern an, die Schneckenhäuser und die Muscheln. Und schaut, wie es dem Druck von einem beschädigten Negativ ähnelt. Fotografie avant la lettre.
Fotografie ist heute natürlich etwas anderes, und die anwachsende Horde technikbegeisterter Männer, die Reviews über neues Kameraequipment postet, bewegt sich auf schwierigem Terrain. Um die visuellen Möglichkeiten des nicht enden wollenden Stroms neuer digitaler Ausrüstung zu untersuchen und zu besprechen, muss sie ihre Linse auf etwas anderes richten – sie muss sich ein Motiv suchen. Meist läuft das auf Frauen oder Vögel hinaus.
Z. B. auf einen Kormoran, der auf einem alten, verwitterten Holzpfahl seine Flügel trocknet: Seine jesusähnliche Silhouette und der Stolz seiner Haltung spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Man sagt, der Kormoran sei der urzeitlichste aller heute lebenden Vögel, er stamme aus der Zeit der Dinosaurier. Er habe im Gegensatz zu anderen Wasservögeln keinen Ölfilm entwickelt, der ihn davor schützt, durchnässt zu werden. Und deswegen posiere er wie am Kruzifix: weil er seine Federn im Wind trocknen müsse. Was für ein Anachronismus. Eine konstruktivere Stimme würde den Kormoran anders umschreiben und erklären, dass die meisten Lebewesen von Natur aus schwimmfähig seien, aber dass das für Tauchvögel ein Problem darstelle. Es heißt, der Kormoran schlucke Steine, um sein Gewicht zu erhöhen. Seine wichtigste evolutionäre Anpassung ist allerdings seine offene Federstruktur, die keine auftriebsteigernde Luft speichert, sondern stattdessen Wasser aufnimmt. Wie auch immer: Stellt euch durchnässte Federn vor. Stellt euch andererseits Wassertropfen auf einer wasserabweisenden Oberfläche vor. Und lasst uns darüber im Zusammenhang mit analoger und digitaler Bilderzeugung nachdenken.
Das nasse weiße T-Shirt war vielleicht der Höhepunkt der Anrüchigkeit in der alten Welt. Ein letztes Zucken des Analogen vor unserem Abstieg in ein gewichts- und altersloses Universum voller Silikon und Botox – die Taxidermie der Technosphäre –, in das gewachste Universum des Virtuellen. Erinnert ihr euch an Sabrina und Boys Boys Boys? Und an Samantha Fox? Wie diese Sängerinnen weiße Baumwolle und Wasser instrumentalisiert haben, um Bilder ihrer deftigen Körper zu produzieren, hat verschleiert und hervorgehoben. Die Bilder wirkten, als ob sie die glatte Oberfläche der glänzenden Magazine überwinden könnten, indem sie die Fluidität der analogen Entwicklung und die Klebrigkeit der Emulsionsbeschichtung des fotografischen Abzugs wiederholten. Tits and ass oder draperie mouillée. Ein Jahrhundert vorher modellierte der realistische Künstler Constantin Emile Meunier seine monumentale Skulptur Der Schiffslöscher und stellte sein Sujet in feuchtem, klebrigem Gewand dar. In dieser Fantasterei ist sogar das Durchnässte fest und das Durchtränkte stählern. Die Patina der Bronze erinnert an alte Schwarz-Weiß-Fotografien mit Sepiatönung, und der Mangel an Schattierungen verschmilzt den Körper mit der Kleidung.
Es ist sicher kein Zufall, dass bei Anleitungen zur digitalen Bildproduktion perfekt ausgeformte Tropfen an den Oberflächen von Dingen eine so große Rolle spielen. Wie die technisierte Bekleidung der Outdoor-Sport-Industrie bewohnen die Bilder von ihnen eine Welt der Undurchdringlichkeit. Wir wissen, dass die perfekten Wassertropfen auf hellen grünen Blättern, die unsere Desktop-Hintergründe verzieren, nicht natürlich dort aufgetaucht sind. Wir wissen, dass sie dort platziert und dann kunstvoll beleuchtet wurden. Möglicherweise sind sie überhaupt nicht aus Wasser, sondern aus Gelatine oder Kunstharz, wenn nicht überhaupt Produkte digitaler Nachbearbeitung. Sie durchnässen nichts, selbst wenn sie auf absorbierenden Oberflächen liegen, und sie verdunsten auch nicht. Wir haben es hier mit digitaler Bildproduktion zu tun, mit Idealen. Kein Asche zu Asche, Staub zu Staub, sondern eine Welt, in der die Dinge Grenzen haben, eine Welt ohne Entropie, ein Universum ohne Verfall. Wie frischer Salat, der auf der polierten stählernen Arbeitsplatte eines minimalistischen Küchenblocks liegt – mit seinen weißen Adern, die die neongrünen, durchscheinenden Farbnuancen seiner Blätter durchziehen, und mit seiner Objekthaftigkeit, die durch die Spiegelung auf der Metalloberfläche noch verstärkt wird – so kalorienarm, dass die Verdauung gleich viel Energie kostet, wie der Salat selbst liefert.
— Simon Dybbroe Møller
(Übersetzung: Severin Dünser)
Simon Dybbroe Møller wuchs in Grönland auf und lebt in Berlin. Seine Arbeiten waren zuletzt u. a. im Centre Pompidou, Paris, im Musee d’Art Contemporain de la Ville de Paris, im Kunsthaus Glarus und bei Ludlow 38 in New York (alle 2015) zu sehen. Demnächst werden seine Arbeiten im Le Plateau, Paris, im MOCA Cleveland sowie in der Kunsthalle São Paulo gezeigt.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Michael Part
»Mercury et al.«
21er Haus, Wien
5. Dezember 2015 — 17. Jänner 2016
Michael Part arbeitet mit und über Fotografie. Seine Beschäftigung mit den technischen Bedingungen des Mediums ist eng an die frühe Geschichte der analogen Fotografie geknüpft. Parts Ausstellung »Mercury et al.« trägt Quecksilber im Titel – ein Element, das in der Daguerreotypie verwendet wurde, um das Bild in einem letzten Schritt herauszuarbeiten.
Die zwischen 1835 und 1839 entwickelte Daguerreotypie gilt als das erste praxistaugliche fotografische Verfahren. In eine Kamera wird dafür eine Platte eingesetzt deren Oberfläche mit Silbersalzen beschichtet ist. Die molekulare Struktur des Salzgitters wird durch Lichteinfall destabilisiert wodurch die Silbersalze zu metallischem Silber reduziert werden. Anschließend wird das Bild auf der Platte durch Quecksilberdämpfe verstärkt. Übrig bleibt eine Daguerreotypie, die dort silbern ist, wo wenig Licht einwirken konnte. Da kein Negativ verwendet wird, ist das Bild seitenverkehrt und außerdem ein Unikat. Im Gegensatz dazu werden beim Silbergelatine-Verfahren die Silbersalze nicht durch Lichteinfall, sondern durch eine Entwicklerflüssigkeit auf metallisches Silber reduziert wobei Seien zur Kontraststeuerung und Farbtonbeeinflussung eingesetzt werden kann. Selen wandelt das Silber in Silberselenid um, das eine chemisch stabilere Verbindung als reines Silber ist und Fotografien haltbarer und damit auch archivtauglicher macht. Ebendieses Selen steht in einer Reihe von Arbeiten Michael Parts im Vordergrund. Es sind Silberspiegel, auf denen sich farbige Muster abzeichnen. Die Spiegel wurden in einem Prozess angefertigt, der dem Silbergelatine-Verfahren ähnlich ist. Bei beiden Verfahren ist das Ausgangsmaterial Silbernitrat und das Resultat metallisches Silber. Allerdings wurde auf der Oberfläche der Spiegel kein Bild durch Licht festgehalten, stattdessen wurde Selen in einer wässrigen Lösung angewendet, wie es eben auch bei Silbergelatine-Prints gemacht wird. Dadurch entstehen verschiedene Muster, die die Selenanwendung sichtbar machen und so einen chemischen Prozess abbilden, aber keine Motive darstellen – da ja auch nichts belichtet wurde.
Als Ergänzung zum apparatlosen Verfahren bei den Spiegeln stellt die Diainstallation »Ohne Titel (Natriumdithionite et al.)« die Apparatur ins Zentrum. Auf einem Sockel steht ein Projektionsrack, in dem zwei Diaprojektoren angebracht sind. Davon ausgehend wird eine Sequenz von Bildern an gegenüberliegende Wände geworfen, die auf weitere Verfahrenstechniken der Fotografie verweisen und den Produktionsprozess der an den Außenwänden gezeigten spiegelnden Arbeiten sowohl inhaltlich als auch formal (nämlich über ihre Texturen) kontextualisieren.
Die Arbeiten von Michael Part stellen Fragen in den Raum, was das fotografische Bild ist, welche Rolle es vor allem in dokumentarischer Absicht einnimmt, wie es sich von anderen Medien unterscheidet und was das Lichtbild als solches überhaupt konstituiert. Die Werke tun dies anhand experimenteller Anordnungen, die die Substanzen rund um die bildgebenden Methoden in neue Kombinationen bringen. Die Funktion von Chemikalien wird unterlaufen, ohne deren Bezug zur Fotografie und zu ihrer Geschichte aus den Augen zu verlieren. Es wird zur Disposition gestellt, was die Fotografie darstellen kann, und nachgefragt, an welchem Punkt die Fotografie zum Bild wird. Wo das auf technischer Seite festgemacht werden kann und ob man es als Entwickeln oder Verstärken bezeichnet, ist mehr eine rhetorische Frage. Das titelgebende Quecksilber hat Part in seinen Arbeiten nämlich nicht benutzt – was wahrscheinlich auch besser so ist, war doch den ersten Daguerreotypisten aufgrund der Arbeit mit Quecksilberdämpfen eine durchaus kürzere Lebenszeit beschieden. In Anlehnung an die verschiedenen Behandlungsverfahren treibt Part aber so eine Narration voran, die einerseits außerhalb der Darstellung von Motiven liegt und andererseits die chemischen Prozesse zum Bildgegenstand macht – ein Unterfangen, das man als buchstäbliches »Zeichnen mit Licht« beschreiben könnte.
Michael Part, geboren 1979, lebt in Wien. Seine Arbeiten waren zuletzt u. a. in den Ausstellungen »Para/Fotografie« im Westfälischen Kunstverein (2015), »The day will come when photography revises« im Kunstverein in Hamburg (2015), »green postcard« bei lbid Projects, London (2015), »e.g., 2005-2014« in der Galerie Andreas Huber, Wien (2014) und »Occupy Painting« bei Autocenter, Berlin (2014), zu sehen.
Anne Schneider
»Ableger / Lessening Fold«
21er Haus, Wien
5. Dezember 2015 — 17. Jänner 2016
»Ableger / Lessening Fold« nennt Anne Schneider ihre Ausstellung im 21er Haus. Ein »Ableger« ist ein abgetrennter Teil einer Pflanze, aus dem eine neue wachsen kann – eine Methode zur Vermehrung also. Metaphorisch steht dieser Teil des Titels bei Schneider aber für ihre Prozesse des Denkens und Arbeitens: Das Ablegen von Dingen ist ein wesentlicher Teil ihrer Praxis. »Aus dem Ablegen entstehen neue gedankliche Verbindungen und daraus Formationen. Dieser Hang zum Liegenlassen und Stapeln erzeugt zuerst Chaos, aus dem ich kreativ schöpfen kann und das in einer bewussten Wiederholung einzelner Verbindungen Neues formuliert«, erklärt Schneider. Der zweite Teil des Titels –»Lessening Fold«, also »abnehmende Falte« – verweist auf die formale Seite ihres Schaffens, das Entstehenlassen von Falten durch das Quetschen und Pressen von Volumen.
Bildhauerei bedeutet im Wesentlichen, mit Volumen umzugehen, seien es nun additive Verfahren wie bei der Plastik oder subtraktive Methoden wie bei der Skulptur. Anne Schneider bedient sich beider Arbeitsweisen und greift dafür auf Materialien wie Wachs, Beton, Jute oder Metall zurück. Es sind Stoffe, die man aus dem Alltag kennt und die der Künstlerin ein hohes Maß an Freiheit im Umgang mit ihnen erlauben. Jute assoziiert man mit Säcken, die man dazu verwendet, sie mit anderen Dingen zu befüllen. Schneider verwendet gebrauchte Jute, die eigentlich Abfall ist bzw. ein entwerteter Stoff, und untergräbt so Materialhierarchien. Auch Wachs ist ein gewöhnlicher Rohstoff, der reversibel ist und einfach in unterschiedliche Aggregatzustände gebracht werden kann. Das bringt eine Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Material mit sich, die einerseits der Künstlerin ermöglicht, fast skizzenhaft damit zu arbeiten, was andererseits den Formwerdungsprozess für den Besucher nachvollziehbar macht. Auch bei der Verwendung von Beton werden Berührungen und Gesten erkennbar. Hier sind es keine Spuren von Händen, sondern Abdrücke von Nähten, die die Herstellung ablesbar machen: Anne Scheider näht Textilien zu Negativformen, die sie mit Beton ausgießt. Normalerweise werden für Gussformen starre Materialien verwendet, um exakte Ergebnisse zu erzielen. Textilien sind flexibel, wodurch sich beim Guss Ausbuchtungen ergeben, aber auch Falten. Was als Form noch geometrischen Prinzipien folgt und formale Strenge hat, erhält im Guss etwas organisch Anmutendes, fast Anthropomorphes, das mit seinen weichen Rundungen im Gegensatz zu seiner harten Materialität steht.
Viele von Anne Schneiders Betonobjekten sind zudem rosa bzw. hautfarben eingefärbt, was ihre Körperhaftigkeit noch steigert. Das Organische, das diesen Objekten anhaftet, subjektiviert sie und gibt ihnen einen Charakter. Wesenhaft sitzen und stehen sie im Raum, während eine andere Serie von Arbeiten, die Bodies, diese Anthropomorphität zwar im Namen trägt, sie aber nicht ausstrahlt. Es sind gegenstandhafte Objekte, die an Möbel erinnern und durch den antizipierten Gebrauch auf den Körper verweisen. Ihre suggestive Kraft liegt in der Abwesenheit von Körpern und zugleich in deren Eingeschriebenheit in die Skulpturen.
Die Ausstellung deutet so auch auf einen Wohnraum hin. Architektur ist ein wiederkehrendes Motiv bei Anne Schneider, ebenso die Idee der Erfahrung durch Zeit und Bewegung. Zwei Objekte in der Ausstellung etwa sind wie Portallöwen positioniert, und man muss zwischen ihnen durchgehen, um dann vor einer schwarzen Wand aus Wachs zum Stehen zu kommen. Das Private und Intime wird in einem öffentlichen Raum seziert und präsentiert. Dies ist aber keine Illustration eines domestischen Raums, sondern das Domestizieren eines Raums. Dem Modernismus und seiner Rationalisierung des Lebens setzt Schneider etwas Organisches entgegen, genauso dem White Cube einen Rückzugsort.
Und als solchen hat Anne Schneider die Ausstellung konzipiert: als einen Ort zum Entschleunigen, zum Runterkommen. Indem sie in ihrer Praxis auf Materialien setzt, die alltäglich sind, zu denen sie auch als Person eine gewisse Nähe hat und mit denen sie auf eine Art und Weise umgeht, die auf ebenso vertrauten Techniken wie Nähen beruht, betont die Künstlerin ein kontemplatives Moment in ihrer Kunst: Hier geht es nicht um eine Auseinandersetzung, sondern um eine Vertiefung. Das physische Wahrnehmen der Ausstellung wird so zu einer psychischen Erfahrung, die innerlich entspannt und Falten reduziert.
Anne Schneider, geboren 1965, lebt in Wien. Ihre Arbeiten waren u. a. in den Ausstellungen Care bei Interstate Projects in New York (2015) und Oysters with Lemon bei Ventana in Brooklyn (2015), in der Minerva Gallery in Sydney (2015), bei Supergood in Wien (2015), im Salzburger Kunstverein (2014), in anthropomorph und unähnlich in der Galerie Christine König in Wien (2011) und in Nichts ohne den Körper im Lentos Kunstmuseum in Linz (2008) zu sehen.
Till Megerle
»Donkeys«
21er Raum im 21er Haus, Wien
29. Oktober — 29. November 2015
Als Künstler geht es erst einmal darum, Möglichkeiten zu finden, um zu kommunizieren. Zeichnungen befinden sich außerhalb eines Repräsentationsdiskurses und bieten so ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit, das auch in den niedrigschwelligen Produktionsbedingungen begründet ist: Zeichnen ist praktisch, billig und eigentlich immer und überall machbar. Zeichnungen unterstellt man deshalb gern eine gewisse Unmittelbarkeit, und man neigt dazu, sie zu psychologisieren. Till Megerles Arbeiten auf Papier scheinen diese Projektionen aber nicht einzulösen.
Das Medium ermöglicht, sich Vokabulare zu erarbeiten, um dann auf verschiedene Arten zu formulieren. Die Gesten, die dabei entstehen, verwendet Till Megerle wie einzelne Zeichen bzw. Buchstaben, die, immer wieder neu zusammengesetzt, Konstruktionen ergeben, die man „lesen“ kann. Das Interpretieren hintertreibt er allerdings, indem er Stile wie Worthülsen verwendet und von Zeichnung zu Zeichnung austauscht. Unsere Rezeption wird in ein Versteckspiel verwickelt zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir darauf projizieren. Und sie wird ins Schwanken gebracht mit einer Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz. In der Frühromantik schrieb Friedrich Schlegel: „In jedem guten Gedicht muss alles Absicht, und alles Instinkt sein. Dadurch wird es idealisch.“ Reflexion und Intuition, also Geist und Bauch, Distanz und Nähe, verbindet Megerle dann auch in seiner zeichnerischen Praxis, um Intensitäten hervorzubringen.
Um eine Gleichzeitigkeit innerhalb eines Dualismus geht es auch bei den Gnostikern. Zwischen 200 vor und 300 nach Beginn unserer Zeitrechnung basierten verschiedene gnostische Lehren auf dem Glauben an eine grundsätzlich böse, materielle Welt (der Mensch samt Körper und Geist mit eingeschlossen) im Gegensatz zu einem guten, allumfassenden Gott. Da der aber teilnahmslos ist, werden böse Götter angebetet. „So scheint mir die Anbetung eines Gottes mit Eselskopf (da der Esel das abscheulich-komischste, aber zugleich das menschlich-virilste Tier ist) noch heute imstande zu sein, eine ganz kapitale Bedeutung anzunehmen, und der abgeschnittene Eselskopf der azephalischen Verkörperung der Sonne stellt, so unvollkommen sie auch sei, gewiss eine der virulentesten Manifestationen des Materialismus dar“, schreibt Georges Bataille 1930 in seinem Aufsatz „Der niedere Materialismus und die Gnosis“.
Till Megerle eignet sich für seine Zeichenserie das Motiv des Eselskopfes an. Er übernimmt den Sujetkomplex als ein Stimmungsbild, das er interessant findet – es geht also um Bataille als Popmotiv und nicht um Neosurrealismus. Wie Bataille anmerkt, bietet der Esel einiges Identifikationspotenzial. Während das Pferd ein Schönheitsideal verkörpert, ist der Esel dessen mit minderen Qualitäten versehener Bruder. Das Pferd steht für Hochkultur, der Esel für den Zirkus: Er birgt ein Moment der Subversion in sich, ist Manifestation des entfesselten, dunklen Materiellen.
Die meisten Esel hat der Künstler in karikaturhafter Manier gezeichnet. Die Idee der Karikatur hatte für Megerle immer einen besonderen Reiz, da man dabei versuche, nicht authentisch zu sein, sondern über eine künstlerische Form über Sachen zu sprechen. Karikatur an sich ist kein Ausdrucksstil, sondern ein artifizieller Stil mit einer gewissen Distanz zur Realität und erleichtert so das In-Spannung-Bringen von Reflexion und Intuition. So verwundert es nicht, dass Megerle in einer anderen Serie auf das Karikaturrepertoire des 19. Jahrhunderts zurückgreift, etwa auf Wilhelm Busch. Dessen Werke kann man als lustige Geschichten lesen, aber auch als Illustrationen von Arthur Schopenhauers Ideen. Schopenhauers Philosophie kreist u. a. um den Willen, dessen stärkster Ausdruck der nicht dauerhaft zu befriedigende Geschlechtstrieb sei.
Und hier kommen wir langsam zum Kern der Arbeiten von Till Megerle, seien sie nun fotografisch oder zeichnerisch. Nicht nur bei den Eselsköpfen geht es um Körperlichkeiten, besser gesagt um Körperkomplikationen, um die Physis in ungünstiger oder unsouveräner Situation. In einer täglichen Praxis subsummiert Megerle einzelne Gesten zu sorgfältigen Gefügen. Die entstandenen Konstruktionen werden in Zweifel gezogen und auf wenige Blätter reduziert. Dieses Destillat ist lapidar, aber hält mit wenigen Strichen einen Diskursraum rund um Körperpolitiken, Sexualität und zwischenmenschliche Machtverhältnisse intakt, der zwischen den Zeichen zum Vorschein kommt.
Till Megerle wurde 1979 geboren und lebt in Wien und Berlin. Seine Arbeiten waren zuletzt u.a. bei William Arnold, New York (2015), im Kunstverein Freiburg (2015), bei Christian Andersen, Kopenhagen (2014), der Galerie Micky Schubert, Berlin (2014), bei Diana Lambert, Wien (2013) und bei Center, Berlin (2012) zu sehen.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0