Erwin Wurm – »Performative Skulpturen«
kuratiert von Severin Dünser und Alfred Weidinger
21er Haus, Wien
2. Juni – 10. September 2017
Befreiungsschläge im Nebel der Bildhauerei
Zu Erwin Wurms „Performativen Skulpturen“
„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie? Darüber denke ich seit Jahrzehnten nach“1, meint Erwin Wurm zu seiner Praxis. Und tatsächlich ist er seit über 35 Jahren auf einer künstlerischen Odyssee mit dem Ziel, den klassischen Skulpturbegriff zu erweitern.
Angefangen hat alles mit Skulpturen aus Holzlatten, die Erwin Wurm zu Beginn der 1980er-Jahre zu Figuren zusammengenagelt hat. Zusätzlich hat er sie bunt bemalt, ähnlich dem Stil der „Neuen Wilden“, die damals ihr Unwesen trieben. Klassifiziert als „Neue Skulptur“, waren die Arbeiten dem entgegengesetzt, das damals angesagt war, wie etwa minimalistische oder konzeptuelle Kunst. Bald wurden auch diese Gesten zum Teil des Kanons, und Wurm wollte sich aus seiner Assoziation mit der „Neuen Skulptur“ wieder befreien. In Opposition zu seinem bisherigen Schaffen versuchte er also das Pathos und die Schwere der Kunst zu überwinden.2 Er ließ das Erhabene hinter sich und suchte sich ein neues Werkzeug, um den Zugang zu seiner Kunst neu zu definieren. Was er fand, war das Paradoxe.
Ende der 1980er-Jahre begann Wurm Kleidungsstücke als Ausgangsmaterial für seine Skulpturen zu verwenden. Er stülpte Jacken, Hosen, Hemden und dergleichen über Kuben und Zylinder. Die Arbeiten leben von ihrem Bezug zum menschlichen Körper im Kontrast zur Verfremdung durch das Aufzwingen einer geometrischen Form. 1990 entwickelt er daraus die „Hanging Pullovers“, die nicht mehr an ein Objekt gebunden sind, sondern wie Bilder an der Wand hängen, dabei aber durch spezifische Faltung einen skulpturalen Charakter erhalten. Umgekehrt werden Kleidungsstücke auch zusammengelegt und so in Boxen platziert. Zu diesen Werken entstehen das erste Mal auch Anleitungen, die mit Zeichnungen und Anmerkungen das Falten für die Betrachterinnen und Betrachter nachvollziehbar machen. Wurm hat in diesen Kleidungs-Werken einerseits die klassischen Methoden der Bildhauerei angedeutet, während er einen Gebrauchsgegenstand zum Kunstwerk macht, indem er ihn seiner Funktion beraubt. Gleichzeitig verlagert er den Fokus weg vom Objekt an sich, hin zum skulpturalen Prozess des Schaffens, den er zudem auch noch potentiell auf die Rezipientinnen und Rezipienten überträgt.
In dem Video „Still I“ von 1990 ist dann ein Mann zu sehen, der bewegungslos dasteht. Er hat eine Schüssel über seinen Kopf gestülpt, wodurch seine Mimik verdeckt wird. Das Video ist geloopt, wodurch ein statischer Eindruck erweckt wird, der dem Medium selbst entgegenläuft. Wurm hat hier erstmals einen Menschen zur Skulptur gemacht, die über eine der Bildhauerei fremde Technik vermittelt wird – etwas das bald charakteristisch wird für seinen Umgang mit Skulptur.
1990 kamen auch die Staubskulpturen ans Licht der Öffentlichkeit. Sie bestehen aus weißen Sockeln auf deren Oberkante Staub liegt. Allerdings nicht überall, denn manche Flächen sind ausgespart, als ob dort etwas lange gestanden wäre, das nun verschwunden ist. Normalerweise sind das Skulpturen, die auf solchen Sockeln in Ausstellungsräumen platziert werden. Wurm hat sie mit den Staubskulpturen verschwinden lassen, beziehungsweise an einen anderen Ort gebracht: In unseren Kopf, wo sie ob ihrer Immaterialität imaginiert werden müssen. Thematisiert wird hier Zeitlichkeit als potentielle skulpturale Qualität, die sich recht buchstäblich über den Staub ausdrückt. Zudem führt Wurm das Prinzip der Reproduzierbarkeit in sein Schaffen ein – die Staubskulpturen können nämlich nach genauen Vorgaben auch von Dritten erneut angefertigt werden – und er entzieht sie damit der Vergänglichkeit, während er mit staubtrockenem Humor den Ausstellungsbetrieb persifliert.
In „Fabio zieht sich an“ von 1992 nimmt ein Mann nach und nach alle Kleidungsstücke von einem Kleiderständer und streift sie sich über. Als unförmige, aufgequollene Figur verlässt er dann den Bildausschnitt. In der Arbeit verbindet Wurm Kleidung als Ausgangsmaterial mit einem Akteur, der eine zeitlich begrenzte skulpturale Handlung durchführt. Das Anziehen von Kleidung wird überhöht und zu einer Metapher für die Bildhauerei, also den Umgang mit Volumen, der den abstrakten Schaffensprozess auf etwas alltägliches herunterbricht und ihm eine gesellschaftliche Bedeutungsebene einschreibt.
Im selben Jahr entsteht auch das Video „59 Stellungen“, in dem Kleidungsstücke auf 59 verschiedene Arten über Körper in bestimmten Haltungen und Verrenkungen gestülpt wurden. Wie bei „Still I“ verharren die Körper im Video in ihrer Position und bewegen sich nur unmerklich. „Da sind zum ersten Mal Begriffe wie Lächerlichkeit und Peinlichkeit dazugekommen. Normalerweise möchte man tolle, ernsthafte Kunst machen. Ich habe aber gemerkt, dass das Lächerliche, Peinliche und Hinfällige wesentliche Zustände von uns sind, die mich mehr interessieren.“3
Von hier aus war der Schritt dann nicht mehr weit zu den „One Minute Sculptures“, die ab 1997 entstehen. Ausgehend von Wurms Handlungsanweisungen werden bei diesen Werken die Betrachterinnen und Betrachter eingeladen, selbst für eine Minute eine Skulptur zu sein. Dabei werden in Interaktion mit Objekten Haltungen angenommen, die durch die Verbindung mit den Anmerkungen des Künstlers inhaltlich aufgeladen werden. Die simplen Anordnungen gehen einher mit oft komplexen Fragestellungen oder Denkaufgaben: Etwa über Montaigne nachzudenken (während man einen Filzstift mit dem Kopf gegen die Wand drückt), die Masse eines Stückes Holz zu schätzen (auf dem man gerade liegt) oder über die eigene Verdauung zu reflektieren (während man liegend eine Toilettenreinigungsflasche auf dem Kopf balanciert). Es können aber auch einfachere Anweisungen sein wie ein Hund zu sein, eine Wurst zu essen, den Pullover über den Kopf zu ziehen um ein Terrorist zu sein, beziehungsweise überhaupt Aufforderungen abstrakte Themengebiete als eine Art Denkmal darzustellen, wie etwa die Theorie der Arbeit, die Organisation der Liebe, die Theorie der Malerei oder den Spekulativen Realisten. Paradoxes und eine gewisse Lächerlichkeit sind bei den „One Minute Sculptures“ zum integralen Bestandteil der Arbeit geworden. Die Einbeziehung der Betrachterinnen und Betrachter, die das Werk innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens ausführen (und das auch immer wieder), das Verwenden von Alltagsgegenständen, als auch das Festhalten der skulpturalen Handlungen in Video und Fotografie waren schon Elemente früherer Arbeiten und wurden von Erwin Wurm in den „One Minute Sculptures“ zusammengeführt.
Darauf folgten Fotoserien wie „Instructions for Idleness“ (2001) und „Instructions on how to be politically incorrect“ (2002), also Anweisungen zum Müßiggang beziehungsweise zum politisch inkorrekten Agieren, die das gesellschaftskritische Moment in Wurms Œuvre wieder stärker machten. Zeitgleich entstand das „Fat Car“ (2001), ein „lebensgroßes“ Auto, das aufgedunsen ist und ein paar Rundungen zu viel hat, um noch einem Schönheitsideal zu entsprechen. Das „Fat House“ folgt dem gleichen Prinzip - es ist einfach übergewichtig und quillt an den Seiten über. Der Künstler nimmt hier wieder das Grundprinzip der Bildhauerei, nämlich das Hinzufügen von Volumen, als Ausgangspunkt. Das menschliche Äquivalent, das Sich-Anfüttern und Dick-Werden, überträgt er dann aus dem Alltag zurück in die Welt der Bildhauerei. Die adipösen Statussymbole des Wohlstands stehen stellvertretend für die Übergewichtigkeit in der Gesellschaft und die Ursachen die dahinterstehen, wie Konsumsucht und Überproduktion. Sie sind sozusagen Vanitas-Motive, Sinnbilder der Vergänglichkeit.
Dem „Narrow House“ von 2010 dagegen hat Wurm keine menschlichen Eigenschaften zukommen lassen, geschweige denn menschliche Proportionen. Es ist nicht aufgebläht, sondern zusammengestaucht worden. Es ist ein Nachbau seines Elternhauses in Originalgröße – allerdings in der Breite auf 1,1 Meter geschrumpft. Als prototypischer Bau der 1960er Jahre in Österreich symbolisiert es den viel realisierten Traum des Eigenheims und das damit verbundene Gefühl der Enge, das sich im kleinbürgerlichen, biederen und entindividualisierten Lebensraum manifestiert. Noch einen Schritt weiter in Richtung innerer Befindlichkeiten geht der Künstler schließlich mit der Serie der „Bad Thoughts“ von 2016. Diese unförmige Klumpen von Material in zugeknoteten Müllsäcken verweigern sich einer ironischen Lesart. Die schwarze Oberfläche verhüllt den Blick auf die darunterliegenden Objekte, nur die amorphen Ausformungen lassen Rückschlüsse auf ihr Inneres zu. In ihrer Materialität als Bronzegüsse suggerieren sie eine Schwere, die zusammen mit dem Titel an dunkle Gemütszustände denken lässt. Ähnlich suggestiv-introspektiv funktioniert auch ein Werkblock, an dem Wurm seit 2011 wieder verstärkt gearbeitet hat: die „Performativen Skulpturen“.
Zu ihnen gehören auch die zuvor genannten „Hanging Pullovers“ von 1990 als auch „Pillow“ von 1992. Dieses Kissen kann man nach gezeichneten Anweisungen „bearbeiten“ und „zu einem Gesicht“, „Huhn“, „Hals“, „Arsch“ oder „einem Hockenden machen“. Fortgesetzt hat Wurm den Werkblock ab 2012 mit „House Attack“. Dabei handelt es sich um Modelle von europäischen und amerikanischen Häusern, teils bekannten Gebäuden oder von berühmten Architekten, teils anonymen Bauten zu denen Wurm einen persönlichen Bezug hat. Die Modelle hat der Künstler zunächst aus Ton geformt und bevor sie abgegossen wurden noch einer weiteren Bearbeitung unterzogen: Er hat sie attackiert, und das auf alle möglichen Arten und Weisen. Mal schlägt er auf ein Modell ein oder setzt sich darauf, ein anderes Mal quetscht er es. So legt er sich etwa auf sein Elternhaus und deformiert es durch sein Körpergewicht, springt auf den Narrenturm, fügt der Haftanstalt St. Quentin Schnittwunden zu, gräbt ein Loch ins Hochsicherheitsgefängnis Stammheim, oder tritt gegen eine deutsche Bunkerarchitektur. Es werden also bestimmte Häusertypen malträtiert, denen eine verhaltenskorrigierende Funktion eingeschrieben ist. Die Zerstörung der geschlossenen Form und damit der Hülle, die das Leben in normierter Ordnung hält, wird zur Rebellion gegen Angepasstheit und Regulierung. Für „Abstract Attack“ (2013) lässt er dagegen Würste auf die Häuser los. Die Wurst, das ist genauso ein Symbol der westlichen Konsumkultur. Und sie sind eine Abstraktion von Nahrung, ist doch kaum mehr erkennbar aus was ihre Füllung besteht. Diese Analogie beschert der Skulpturenreihe den Titel „Abstract Attack“ und ironisiert gleichsam die fast schon modernistische Strenge von „House Attack“.
Ab 2015 erweitert sich der Werkblock der „Performativen Skulpturen“ um zwei weitere Untergruppen: „Furnitures“ und „Objects“. Bei den „Furnitures“ fokussiert Erwin Wurm auf Einrichtungsgegenstände wie ein Sofa, einen Sessel, eine Liege, eine Kommode oder einen Kühlschrank. „Objects“ beinhaltet Dinge wie einen Seifenspender, eine Wanduhr, ein Mobiltelefon, ein Maßband oder eine Pistole. Auch hier geht er nach dem gleichen Prinzip vor, das er schon bei „House Attack“ angewendet hat. Er fertigt Modelle aus Ton an, die im Fall der „Objects“ durchaus auch einmal die Größe des Originals überschreiten. Dann findet er Wege, den Modellen gegenüber handgreiflich zu werden – oder sie gleich mit dem Auto zu überfahren. Am Ende überführt er sie dann häufig noch in andere Materialien, indem er die geschundenen Modelle in Bronze, Aluminium, Eisen oder Kunstharz abgießt und mit Farbe überzieht beziehungsweise patiniert.
Eine letzte Untergruppe komplettiert die „Performativen Skulpturen“. Die Werke von „Beat and Treat“ entstehen ab 2011, einen Vorläufer gibt es schon 1995. Im Gegensatz zu den anderen „Performativen Skulpturen“ haben sie allerdings nichts Mimetisches an sich. Sie beruhen nicht auf Häusern oder Gegenständen. Ihr Ausgangspunkt ist das Material in seiner industriellen Rohform: der Tonblock. Und den bearbeitet der Künstler wieder mit seiner ganzen Körperkraft. Wie der Serientitel schon sagt, „schlägt und behandelt“ er den Ton, tobt sich an ihm aus bis das Werk getan ist. Es wundert nicht, dass er diese Arbeiten auch schon mit „Zornskulpturen“ betitelt hat.
Bei den „Performativen Skulpturen“ scheint der Künstler seiner Aggression freien Lauf gelassen zu haben, beziehungsweise hat er das Wut-an-etwas-auslassen dargestellt. Wie schon in früheren Werken nimmt er Anleihe beim Alltag, wenn er solche Zornausbrüche in skulpturale Schaffensprozesse überträgt. Er überspitzt so das Prinzip der bildhauerischen Geste und persifliert sie. Auch das Lächerliche und Peinliche ist in den Arbeiten angedeutet – passiert es doch eher im Verborgenen, wenn man die Fassung verliert und Dinge zerstört, um angestauten Ärger abzubauen. Falls es doch in der Öffentlichkeit passiert, ist es als Betrachter zum fremdschämen.
Erwin Wurm emotionalisiert hier also das bildhauerische Schaffen. Gleichzeitig psychologisiert er den Blick der Betrachterinnen und Betrachter. Die Objekte werden mit den Augen auf Spuren untersucht und es wird versucht Rückschlüsse zu ziehen auf die inneren Motive des Künstlers, seine Abgründe und die Verfasstheit zum Zeitpunkt der jeweiligen skulpturalen Handlung.
Und es ist Erwin Wurm wichtig, wieder selbst Hand anzulegen: „Mir ist aufgefallen, dass viele Künstler fast nichts mehr selbst machen und ihre Werke stattdessen von anderen produzieren lassen. Das trifft auch auf mich zu. Es irritiert mich, weil ich den Kontakt mit meinem Werk verloren habe, sozusagen. Und deshalb versuche ich diesen Kontakt wiederherzustellen indem ich alles selbst mache, oder zumindest den Großteil.“4 Nun könnte man meinen, dass Wurm ja ohnehin viele seiner Werke von anderen ausführen lässt, etwa die „One Minute Sculptures“, und dass dies ja wesentlicher Bestandteil seines Œuvres sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein Großteil der Entwicklung neuer Ideen beim manuellen Experimentieren passieren – eine Erfahrung die durch abstraktes Planen nicht wettgemacht werden kann, und für das Fortschreiben eines Gesamtwerks unabdingbar ist. Zudem hat Erwin Wurm seine Rolle als Autor nie abgegeben: Auch wenn Besucher seine Skulpturen ausführen können, bleibt die Autorschaft über das Werk beim Künstler.
Seine „Performativen Skulpturen“ sind nicht nur aufgeladen mit Emotion, sie sind auch aufgeladen mit Autorschaft. Sie wird in seinem Werkblock geradezu überzeichnet. Und als Ausdruck dieser Autorschaft kann man die vielen Einwirkungen des Künstlerkörpers auf das Material durchaus als Gesten lesen. Diese Gesten transportieren die Aura des Einmaligen, stellen sie aber in ihrer Reproduzierbarkeit durch Abgießen gleichsam in Frage. Die Unmittelbarkeit der Gesten unterstützt allerdings das Aufrechterhalten einer Authentizität des Ausdrucks. Ähnlich wie bei der gestischen Malerei des Informel, geht es hier um die Nachvollziehbarkeit eines gestischen Impulses, um die auf das Material übertragene Energie. Das Hervorheben des Schaffensprozesses geht einher mit allen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des scheinbar Unbewussten.
Durch die Überzeichnung können die Gesten bei Erwin Wurm jedenfalls als kritische Anspielungen auf den damit verbundenen Künstlermythos gelesen werden, wenngleich der Künstler selbst uns über den Status seiner Handlungen im Unklaren lässt. Trotzdem erhält der gestische Ausdruck heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas erfrischend Körperliches entgegenhalten.
Was von den „Performativen Skulpturen“ vor allem als Eindruck zurückbleibt, ist die Betonung des Schaffensprozesses, mit dem er die physischen Objekten in diesem Werkblock fast buchstäblich kollidieren lässt. Die Moral von der Geschichte? Dinge sind vergänglich, Handeln dagegen macht ein selbstbestimmtes Leben möglich. Kritische Reflexion des eigenen Tuns im Kontext der Gesellschaft also, um vom Subjekt nicht selbst zum Objekt zu werden. Aber wie Erwin Wurm einmal gesagt hat: „Mein Werk handelt vom Drama der Belanglosigkeit der Existenz. Ob man sich ihr durch Philosophie oder durch eine Diät nähert, am Ende zieht man immer den Kürzeren.“
1 Erwin Wurm im Interview mit Tobias Haberl, „Gott sei dank gibt es noch die dunkle Seite“, Sueddeutsche Zeitung Magazin, 18. November 2016, Nr. 46, S. 25, München, Deutschland
2 Vgl. Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 50, New York, USA
3 Erwin Wurm im Interview mit Brigitte Neider-Olufs, "Die Welt wird zunehmend breiter", Wiener Zeitung, 15.10.2010, Wien, Österreich
4 “I have come to realize how much contemporary art suffers, or has suffered, from the fact that artists’ studios have been transformed into manufacturing workshops. I have noticed that many artists do almost nothing at all themselves, but rather let their works be produced by others. That really strikes me. It irritates me because I have lost contact with my work, so to speak. And so I am trying to get that contact back again by creating everything myself, or at least for the most part by myself.” – Erwin Wurm im Gespräch mit Max Hollein, „Photography Knocks at the Door“, Aperture, Herbst 2013, S. 51, New York, USA
Katalog zur Ausstellung:
Erwin Wurm – Performative Skulpturen
Herausgegeben von Stella Rollig, Severin Dünser und Alfred Weidinger
Mit Texten von Severin Dünser und Stella Rollig sowie einem Interview zwischen Erwin Wurm und Alfred Weidinger
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Hardcover, 29 x 22,5 cm, 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe und s/w
Verlag für moderne Kunst, Wien, 2017
ISBN 978-3-903114-40-1
»Das Begreifen«
Heinrich Dunst, VALIE EXPORT, Franziska Kabisch, Barbara Kapusta, Peter Weibel, Tina Schulz, Javier Téllez
21er Raum im 21er Haus, Wien
30. November 2016 — 22. Jänner 2017
Der Ausdruck „Begreifen“ bezeichnet den Prozess des geistigen Erfassens und wird als Synonym für „Verstehen“ verwendet. Etymologisch lässt es sich von der physisch-haptischen Tätigkeit des Abtastens herleiten – ähnlich dem Begriff „Konzept“, der vom lateinischen „concipere“ abstammt, das wörtlich übersetzt Zusammenfassen bedeutet. Die Ausstellung versucht dem nachzugehen, was in den Begriffen zusammenläuft: manuelle Handlung und intellektuelle Rezeption.
Peter Weibel etwa fragt mit „Das Wort Hand mit der Hand schreiben“ nach der Beweisbarkeit der Existenz von Dingen, Vorgängen und Verhältnissen – und zuallererst von der Hand. Das kommt nicht von ungefähr, wird die Hand doch schon in frühen Kindestagen genutzt, um sich der äußeren Realität zu versichern. In der Bibel etwa wird der ungläubige Thomas mit den Worten zitiert „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“1 Der Philosoph Helmuth Plessner beschreibt unsere Wahrnehmung als „Auge-Hand-Feld“, das dem Menschen mit dem Erlernen des aufrechten Gangs zur Eigenheit wurde: „Das Auge führt die Hand, die Hand bestätigt das Auge“2 Dieses Sehen mit der Hand und die Erfahrung daraus steht auch im Zentrum von Barbara
Kapustas „Soft Rope“. In einem Video ist ein Seil zu sehen, das die Künstlerin mit ihrer Hand erkundet, während sie ihren Eindruck des Vorgangs mit einem Gedicht umreißt. Auch in Javier Téllez’ Film „Der Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (zu sehen im Blickle Kino im Erdgeschoss) geht es um taktile Wahrnehmung. Angelehnt an eine indische Parabel ertasten darin sechs blinde Frauen und Männer einen Elefanten. Alle haben eine unterschiedliche Erfahrung des Tieres, dem sie gegenüberstehen, und ihre Interpretationen decken sich nicht – die subjektiven Wahrnehmungen führen zu keiner objektiven Wahrheit.
Die Hand ist allerdings nicht nur ein Instrument zum Ertasten, sondern auch zum Formen. Richard Serra schuf 1968 den Film „Hand catching lead“. Darin ist eine Hand zu sehen, die versucht Bleistücke zu fangen und dabei zu verformen, bevor sie sie wieder fallen lässt. In Serras Film wird dieselbe Geste repetitiv wiederholt, und es gibt keine geglückten oder misslungenen Produkte die zu erkennen sind. Stattdessen wird auf den Prozess des Machens fokussiert, der Film wird zu einer Metapher für die Bildhauerei selbst. Tina Schulz eignet sich die Gesten des Films an und wiederholt sie – allerdings ohne das Blei. Was übrig bleibt sind die scheinbar ziellosen Bewegungen der Hand, die nur im Vergleich mit dem Originalfilm Sinn ergeben und durch die Reduktion überhöht werden.
Die Hand ist, als Objekt gesehen, ausführender Stellvertreter des Subjekts – im Speziellen wenn das Ich ein Künstler ist, wie etwa Heinrich Dunst. Bei ihm „handelt“ die Hand nicht wie bei Schulz, sondern sie wird angesprochen. „Hello Hand“ sagt Dunst zur Hand, die er wie ein Exponat auf einem Tisch platziert hat. In einem Monolog, den er gleichermaßen an die Hand, den Betrachter und sich selbst richtet, spricht er seinen Körperteilen Funktionen zu, die sie eigentlich nicht primär innehaben. Er beschreibt eine Verhältnisstruktur, die bei der Wahrnehmung anfängt und mit der Kommunikation endet – als Metapher für das Handeln, das das Denken mit der körperlichen Existenz in Balance hält.3
Martin Heidegger schrieb dazu: „Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein. Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. […] Allein das Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche Hand-Werk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt.“4
Und auch VALIE EXPORT bezieht sich in ihrem Video „Sehtext: Fingergedicht“ auf Heidegger, den sie mit „Ich sage die Zeige mit den Zeichen im Zeigen der Sage“ frei zitiert. Sie führt den Satz mit ihren Fingern in „visueller Zeichensprache“ aus, kommuniziert mit Händen (ohne Füsse). „Der Körper kann also dazu benützt werden, sowohl geistige wie körperliche Inhalte mitzuteilen. Der Körper als Informationsträger. Der Mensch ist durch den Körper in die soziale Struktur eingepasst“, führt sie zur Intention ihres Videos aus. Und um die soziale Kommunikation rund um die Hände geht es auch in Franziska Kabischs „Deklinationen (Can I inherit my dead parents’ debts?)“. Ausgehend von den an vielen Universitäten bestehenden Professorengalerien wird darüber nachgedacht, wie sich Wissensproduktion und wissenschaftliche Normen in Haltungen – insbesondere der Hände – manifestieren, wie sie übernommen und fortgesetzt werden. Aus dem universitären Kontext einer Vorlesung stammt auch dieses abschließende Zitat von Martin Heidegger: „Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein mochte.“4
1 Evangelium nach Johannes, 20,25
2 Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“ (1970), Suhrkamp, 2003
3 „ich denk’ und vergleiche, sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand“ – Johann Wolfgang von Goethe, „Römische Elegien“ (1788–1790)
4 Martin Heidegger, „Was heißt Denken?“ (1951–1952), Max Niemeyer Verlag, 1954
»Das Gestische«
Thomas Bayrle, Andy Boot, Christian Falsnaes, Roy Lichtenstein, Klaus Mosettig, Laura Owens, Markus Prachensky, Roman Signer
21er Raum im 21er Haus, Wien
8. September — 20. November 2016
Malerei ist das Auftragen von Farbe auf eine Fläche. Pinselstriche sind die Elemente, aus denen sich ein Bild ergibt. Und um diese Einzelteile, aus denen sich über den Prozess des Malens etwas zusammensetzt, dreht sich diese Ausstellung.
Ausgehend von einer aktuellen Schenkung an das Belvedere – der Malerei Rouges différents sur noir – Liechtenstein von Markus Prachensky – werden Aspekte rund um den Duktus und das Wesen des Gestischen diskutiert. Prachensky hat das Bild 1956/57 geschaffen. Es ist nach der Liechtensteinstraße benannt, wo es in einem gemeinsam mit Wolfgang Hollegha genutzten Atelier entstanden ist (im Übrigen war das auch der Ort, an dem die beiden 1956 gemeinsam mit Josef Mikl und Arnulf Rainer die Gründung der Künstlergruppe „Galerie St. Stephan“ beschlossen). Das Gemälde stammt aus einer ersten Serie von Bildern, in der Prachensky mit roter Farbe auf schwarzem Grund malte – wobei die Farbe Rot zu einem wiederkehrenden Element und zu so etwas wie einem Charakteristikum in folgenden Arbeiten wurde. Das Werk Prachenskys ist ganz dem Informel verpflichtet. Das Informel, das sich Ende der 1940er-Jahre von Paris ausgehend seinen Weg nach Wien bahnte, entwickelte sich als Reaktion auf die geometrische Abstraktion. Mit ihr teilte es eine Ablehnung klassischer Kompositionskonzepte, aber forderte im Gegensatz Formlosigkeit und Spontaneität. So geht es Prachensky vordergründig um das Nachvollziehen eines gestischen Impulses, um die auf die Leinwand übertragene Energie.
Was Prachensky in seinem Bild hervorhebt, ist also das prozessuale Moment in der Bildproduktion –mit all seinen Implikationen des unmittelbaren persönlichen Ausdrucks und Spekulationen rund um diese Spuren des Unbewussten. Diese Gesten sind auf dem monochromen Hintergrund klar nachvollziehbar und treten zu diesem in einen starken Kontrast. Sie werden durch ihre Isolation auch selbst zu einem Zeichen, zu einem wiedererkennbaren Symbol der Geste. Ebendieses Zeichen greift Roy Lichtenstein in der Serie der Brushstrokes auf, die zwischen 1965 und 1968 entstanden ist. Darin setzt Lichtenstein einzelne und einander überlagernde Pinselstriche im für ihn typischen Comic-Stil um – ironischerweise mit Öl auf Leinwand, während er auf den Abstrakten Expressionismus Bezug nehmend das spontane Moment gewissermaßen karikiert. Im Fall von Little Big Painting Reproduction wurde die Edition auch noch in eine Chromografie übersetzt. Die industrielle Vervielfältigung führt die Einzigartigkeit von Malerei und persönlichem Ausdruck zusätzlich ad absurdum.
Thomas Bayrle arbeitet mit Reproduktionen und Wiederholungen von Formen, die sich häufig – ähnlich der Pop Art – auf Objekte aus der Konsumkultur beziehen und durchaus gesellschaftskritisch gelesen werden können. Einzelne Bildelemente werden bei ihm durch mechanische und digitale Manipulation verzerrt. Aus ihnen ergeben sich systematische Strukturen, die oft ihre Bestandteile widerspiegeln und so auf die dahinterliegende Logik des Bildermachens verweisen. Für Variationen eines Pinselstrichs hat Bayrle 1989 den Pinselstrich als Ausgangsmotiv genommen. Er hat ihn in unterschiedlichen Verformungen zu einer die Bildfläche füllenden Collage arrangiert, die als Metamalerei die Authentizität des Ausdrucks durch dessen mechanische Wiederholung infrage stellt.
Klaus Mosettig übersetzt seit 2007 Arbeiten anderer Künstler in Zeichnungen. Dafür projiziert er die Werke auf Papier und zeichnet sie in monatelanger Kleinarbeit in unterschiedlichen Grautönen nach, wie man sie aus Druckverfahren kennt. Trotz des aufwendigen Prozesses per Hand hinterlässt Mosettig keine ihm zuordenbare Handschrift. Und dennoch entwickeln seine Arbeiten eine künstlerische Autonomie vom Original. Das hängt auch mit der Zeit zusammen, die er in seine Werke investiert und die bei genauer Betrachtung nachvollziehbar wird. Die Vorlage für Informel 2 war eine Kinderzeichnung. In Analogie zur im Werktitel genannten Kunstrichtung handelt es sich bei der Kinderzeichnung um den Versuch eines unmittelbaren Ausdrucks, um das experimentelle Finden einer persönlichen Bildsprache. Die Rezeption dieser kleinen Geste verändert Mosettig, indem er sie sich aneignet, mit dem Bleistift kopiert und vergrößert.
Roman Signer ist für seine Aktionen bekannt, versteht sich aber als Bildhauer, der Faktoren wie Zeitlichkeit, Beschleunigung und transformative Prozesse auf seine Arbeiten einwirken lässt. Feuerwerkskörper etwa sind ein wiederkehrendes Element in seinem Œuvre, so auch in dem Video Punkt von 2006. Signer nimmt darin vor einer auf einer Wiese aufgestellten Staffelei Platz, taucht einen Pinsel in Farbe und hält ihn vor die Leinwand. Hinter ihm explodiert kurz darauf eine Box – der Künstler erschrickt und setzt dadurch einen Punkt auf die Malfläche. Signers Ergebnis einer gezielten Schreckreaktion entspricht fast buchstäblich der auf die Leinwand übertragenen Energie, wie sie im Informel zur Geltung kommt. Nur dass Signer den Prozess des gestischen Malens überzeichnet, um zu einem für ihn authentischen Ausdruck zu finden.
Andy Boot hat sich schon in früheren Arbeiten mit expressiver Gestik auseinandergesetzt: etwa in der Arbeit e who remained was M, die sich in der Sammlung des Belvedere befindet. Boot lässt in Farbe getauchte Nudeln auf die auf dem Boden liegende Leinwand fallen. Daraus ergibt sich ein neo-abstrakt-expressionistisches Muster, das das gestische Moment ob seiner Absurdität zum Ornament degradiert und dabei das Prozessuale als Illusionismus karikiert. Die Arbeit Untitled (light blue) von 2012 hingegen gibt sich ohne Ironie der Gestik hin. Ein hellblaues Band aus der rhythmischen Sportgymnastik hat er in einem Rahmen drapiert und diesen dann mit Wachs ausgegossen. Aus einem Sportgerät, das Bewegung sichtbar macht, fertigt er also etwas, das an eine abstrakte Komposition erinnert – eine Metamalerei, die auf das Gestische in der Malerei verweist, ohne selbst gemalt zu sein.
Laura Owens ist als Malerin dafür bekannt, gleichermaßen abstrakt und figurativ, sowohl medienübergreifend und -überlagernd als auch mit einer Vielzahl von Referenzen aus Kunstgeschichte, Populär- und Volkskultur zu arbeiten. Kleine Aspekte und Details macht sie oft zu den Zentren ihrer Bilder, wenn sie neue Techniken ausprobiert und dadurch wieder einmal den Stil wechselt. Der Pinselstrich als dekoratives Element und Zeichen tauchte in den letzten Jahren vermehrt in ihren Werken auf, und auch bei Ohne Titel (Clock Painting) von 2013 scheut sie die Nähe zum Dekorativen nicht. In das Gemälde ist ein Uhrwerk eingebaut, ein Zeiger wandert über das Bild. Was in der Malerei steckt, steckt sprachlich auch in der Uhr: Der Zeiger wird im Englischen nämlich mit „hand“ bezeichnet, der Stundenschlag mit „stroke“. So kann der Zeiger durchaus buchstäblich als Metapher für die Hand gelesen werden, der sich beim Malen über die Leinwand bewegt und dabei die Form eines Striches hat, während Owens gleichermaßen auf die Zeit als Faktor in der Bildproduktion anspielt.
Christian Falsnaes’ bevorzugtes Medium ist die Performance. Er arbeitet dabei mit vorgefertigten Skripts denen er mehr oder weniger folgt, und motiviert das Publikum, sich zu involvieren. Es geht ihm um ein Erlebbarmachen von gruppendynamischen Prozessen, aber ebenso um das Bewusstmachen von Ritualen und Verhaltensnormen – im Speziellen auch in der Kunstwelt. Für die Ausstellung erarbeitete Falsnaes eine neue Variation des Stücks Existing Things, in dem das Publikum unter anderem gemeinsam ein Bild malt – mit einem Performer als Pinsel. Mit der Aktion wird individuelle Autorschaft geradezu aufgelöst in einem kollektiven Prozess, von dem dann bunte Pinselstriche in der Ausstellung nachvollziehbar bleiben.
Generell steht der Pinselstrich als eigenständiges Zeichen metaphorisch für die Kunst selbst und lässt sich im zeitgenössischen Kontext vor allem als kritische Anspielung auf den damit verbundenen Künstlermythos lesen. Die Ausstellung zeigt auf, wie sich der Blick auf individuelle Autorschaft, künstlerische Authentizität und Originalität verändert hat. An diesen Kategorien, unter deren Bedingungen wir Kunst wahrnehmen und reflektieren, scheint ein unverändertes Interesse zu bestehen. Allerdings hat sich durch die Möglichkeiten technischer Reproduktion und Medialisierung die Haltung gegenüber dem Wesen des Gestischen in der Malerei gewandelt. Der gestische Ausdruck erhält heute wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er Qualitäten in sich vereint, die der Digitalisierung unseres Alltags etwas Unmittelbares, ja erfrischend Körperliches entgegenhalten.
Andy Boot
»Überfläche«
21er Raum im 21er Haus, Wien
14. November — 9. Dezember 2012
Überfläche ist der Titel dieser Ausstellung von Andy Boot. Er suggeriert zwei Dinge: einerseits, dass da etwas ist, was über der Oberfläche liegt, und andererseits, dass dieses Etwas erhaben ist. In einer Gegenwart in der wir ständig von Bildern umgeben sind, dringt der Untergrund immer seltener durch die glänzenden Oberflächen. Nicht der gläserne Mensch ist Realität geworden, sondern das Individuum als mediale Entität. Diese immer stärker verschwimmende Grenze zwischen Sein, Präsentieren und Repräsentieren ist Ausgangspunkt der Beschäftigung Boots mit Oberflächen und Mustern.
Aber was für Flächen sind in Boots Ausstellung zu sehen? Da gibt es das Bacterio Muster, 1978 von Ettore Sottsass entworfen, das sich einer eindeutigen Identifizierung entzieht, und zwischen abstrakt und gegenständlich oszilliert. Der Designer verwendete es als Laminat für seine Memphis Möbel, um Materialität und Struktur zu negieren, und – es als industrielles Muster wiederholend – zur eigenständigen Antiform zu erheben. Boot appliziert das Muster einmal auf eine auf Rollen stehende Skulptur, die selbst aus Trägermaterial – in dem Fall Regalbrettern – besteht, das zweite Mal taucht es als in sich selbst ruhendes Objekt auf: Als pures Laminat, unentschlossen, ob es Material oder Oberfläche sein soll. Bei sharpies thumb ist eine Leinwand recht unprätentiös mit schwarzer Farbe übermalt worden, darüber hat Boot ein Bild kaschiert, das zwei Burschen zeigt, die sich im Zuge eines missglückten Einbruchs mittels Filzstift die Gesichter unkenntlich machen wollten. Die Geste der Übermalung markiert hier in doppelter Weise den schmalen Grat auf dem die Oberfläche wandelt: zwischen Verschönerung und Verschleierung. Auch Ohne Titel spielt auf zwei unterschiedlichen Ebenen darauf an. Zum einen ist der Bronzeabguss eines Makeups in ein Holzbrett eingelassen, die ursprüngliche Funktion dadurch verfremdet und verschleiert. Aber die Oberflächenstruktur des Makeups gibt immer noch den Charakter des Produkts wieder, das da auf die eigene Haut aufgetragen werden wollte. Kein Makeup, eher ein Backup stellt eine weitere Skulptur aus einer Schrankrückwand dar. Sie markiert gleichzeitig das Ende eines Behältnisses und kaschiert den dahinter liegenden Raum. Ähnlich wie eine Leinwandarbeit, die weiß grundiert ist – bis auf ein aufgemaltes X. Als ein aus Grafikprogrammen entlehntes Symbol steht das X als Platzhalter für ein noch zu definierendes Bild, hier also für eine selbstreferentielle Metapher von Acryl auf Leinwand. Eine weitere Definition von Bild und Malerei findet sich in einer hellblau bemalten Leinwand, über die Boot kleine Katzensticker geklebt hat. Das Gestische der Abstraktion wird hier zur reinen Übertünchung der Fläche ironisiert, die Sticker darüber laden dazu ein ihre fellige Oberfläche zu betasten: seine Dekoration will als sinnliche Figuration verstanden werden. Auch die größte Arbeit der Ausstellung schreckt nicht vor einem Seitenhieb auf Pollock zurück. Für e who remained was M lässt Boot in Farbe getauchte Nudeln auf die am Boden liegende Leinwand fallen. Daraus ergibt sich ein neo-abstrakt-expressionistisches Muster, das das gestische Moment ob seiner Absurdität zum Ornament degradiert, und damit dem Illusionismus in seinen Bildern wieder Tür und Tor öffnet. Ähnliches passiert auch bei Untitled (ambassador), einem Betonzylinder, in dessen Oberseite der Innenraum eines Martiniglases (nach einem Entwurf von Oswald Haerdtl) ausgespart wurde – es ist nur noch als Zeichen lesbar und seiner Funktion beraubt.
Die Frage nach dem Status der Oberfläche ist bei Andy Boot ein Reflektieren von Materialitäten und Funktionalitäten. Durch die Transformation von Mustern in Materialien, Gesten und Malerei in Ornamente und Dekoration, und das alles auch vice versa, stellt er die Oberflächen, die wir wahrnehmen, über Form und Funktion. Das Ornament und seine Wiederholung ist bei ihm kein Verbrechen mehr, sondern spiegelt eine Realität wieder. Eine Wirklichkeit in der Sein, sich Präsentieren und sich Repräsentieren zunehmend verschwimmen und selbst das Ich als mediatisierte Entität gedacht und gelebt wird. Das Individuum ist zu einer Leinwand mit möglichst großer Oberfläche geworden, zu einer Überfläche: I am the message, because I am the medium.
Andy Boot, geboren 1987 in Sydney, Australien, lebt und arbeitet in Wien. Dieses Jahr waren Einzelausstellungen von ihm bei Croy Nielsen in Berlin und in der Renwick Gallery in New York zu sehen.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Constanze Schweiger
»Scrollwork«
21er Raum im 21er Haus, Wien
20. Dezember 2012 — 13. Jänner 2013
Die Ausstellung Scrollwork von Constanze Schweiger kreist um verschiedene ästhetische Phänomene in Malerei, Mode und Gesellschaft. Die Künstlerin übersetzt dafür einzelne Elemente aus ihrem Blog (constanzeschweiger.blogspot.co.at) zurück in Ausstellungsobjekte, und die Texte darauf in ein Druckwerk. Wie ein Scrollwork – ein Ornament, das mal einem Blattwerk nachempfunden, mal ein abstraktes Muster sein kann – changiert die Ausstellung zwischen Objekten, die in verschiedene Richtungen weisend dennoch ein großes Ganzes bilden.
Zu sehen ist die Diaprojektion Peppermint, Cheerleader oder Schlechtes Gewissen, die von der Künstlerin angefertigte Farbkarten zeigt. Sie hat dafür das gesamte Spektrum von Acrylfarben, das sie für ihre Malereien verwendet, auf quadratische Karten übertragen, um die Farbigkeit nach deren Austrocknen abschätzen zu können - eine Reflexion von Produktion, deren Titel auf die reiche Suggestivität der Farbnamen verweist. Darüber hinaus liegen am Tisch: Socken von Michael Part, ein Bild von Nicolas Jasmin, ein Foto einer Pflanze vor einem Muster, eine Hose, Farbe auf einem Schuh, zwei Textilien, ein Buch, eine Wanduhr, eine Schallplatte, ein Farbfächer, eine Postkarte und eine ältere Publikation der Künstlerin.
Verbunden werden die einzelnen Exponate durch Schweigers Blog und eine neue Publikation (zur freien Entnahme). Sie enthält Blogtexte zu einzelnen Dingen, und läßt daraus wieder ein All-Over entstehen: ein zusammenhängendes Metaornament - das Scrollwork (dt. Roll- oder Rankenwerk).
Constanze Schweiger, geboren 1970 in Salzburg, lebt und arbeitet in Wien. Ihre Arbeiten waren zuletzt u. a. zu sehen bei school, Wien (2012), im Museum der Moderne Mönchsberg, Salzburg (2012), Kunstraum Niederösterreich, Wien (2011), Ve.Sch, Wien (2011) und Magazin, Wien (2010).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Anja Ronacher
»Void«
21er Raum im 21er Haus, Wien
23. Jänner — 24. Februar 2013
„Ich gehe von der Annahme aus, dass dem fotografischen Bild ein Begehren zugrunde liegt“ sagt Anja Ronacher, und versteht das Begehren dabei als durchaus evolutionäres Resultat archaischer Bedürfnisse. Ebensolche befriedigt das Gefäß, über das Heidegger schreibt: „Die Leere ist das Fassende des Gefäßes. Die Leere, dieses Nichts am Krug, ist das, was der Krug als das fassende Gefäß ist“. Weiters beschreibt er das Ding an sich über Nähe: „In der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen. Doch was ist ein Ding? Der Mensch hat das Ding als Ding so wenig bedacht wie die Nähe“(1).
Die Gefäße auf Anja Ronachers Fotografien sind also in gewissem Sinn Platzhalter für die Leere, für den Signifikanten für den ein Gefäß steht. Und der hat mit unseren elementaren Bedürfnissen zu tun, wir haben sozusagen ein natürliches Naheverhältnis zu diesem Ding. Das trifft ebenso auf Stoff zu, zu dem wir einen vorrangig haptischen Zugang haben. Ronachers Fotografien von Faltenwürfen spielen auf die Absenz eines Körpers an, wenngleich der Textilie Körperlichkeit eingeschrieben ist. „Die Arbeit des Drapierens ist eine langsame Annäherung an eine Form, die zugleich erarbeitet ist und sich ereignet“, und, so Ronacher weiter, „in zweifacher Weise ereignet sich auch die Zeit in Bildern, in der Zeit der Arbeit am Material sowie in der Zeit der Belichtung“. Die Zeit der Belichtung bestimmt die Dunkelheit. Die Arbeit des Drapierens ist Verminderung und Reduktion, „Rückkehr in die Tiefe der Welt“(2), wie Deleuze in einem Aufsatz zu Leibniz anmerkt. In der Fotografie wird die Falte Form ohne Materie, eine „entkörperlichte Ähnlichkeit“(3), wie Maurice Blanchot schreibt. In ähnlicher Weise zeigen die Bilder von archäologischen Objekten, Gefäßen und Gegenständen die gleichzeitige An- und Abwesenheit in den Bildern, in denen auch die Hersteller der Dinge und Draperien unbekannt sind: entpersonalisiert und entautorisiert (was Ronachers Idealbild eines Künstlers entspricht).
Das Objekt kommt vor dem Bild, das Bild wird so der Ort des Verlusts und der Forderung: eine Forderung des Magischen, des Unzeitgemäßen und der Geschichte. „Das Bild lässt sich nämlich nicht durch das Erhabene seines Inhalts definieren, sondern durch seine Form, das heißt durch seine »innere Spannung«, oder durch die Kraft, die es weckt, um eine Leere zu schaffen oder Löcher zu bohren, die Umklammerung der Worte zu lösen, das Hervorsickern von Stimmen zu ersticken, um sich vom Gedächtnis und der Vernunft zu befreien, ein kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen“(4), so Deleuze. Wie die Fotografie ist das Gefäß also in seinem Negativ begründet. Im Gefäß ist dieses Negativ eine Leere, Lücke: „Void“.
(1) Martin Heidegger, „Das Ding“
(2) Gilles Deleuze, „Die Falte - Leibniz und der Barock“
(3) Maurice Blanchot, „Die zwei Fassungen des Imaginären“
(4) Gilles Deleuze, „Erschöpft“, in Samuel Beckett, „Quadrat, Stücke für das Fernsehen“
Anja Ronacher, 1979 in Salzburg geboren, lebt und arbeitet in Wien. Sie studierte Fotografie am Royal College of Art in London und an der Estnischen Kunstakademie in Talinn, sowie Bühnenbild an der Angewandten in Wien. Ihre Arbeiten waren u.a. zuletzt zu sehen bei Beers Lambert Contemporary, London (2012), im Museum der Moderne Salzburg (2010), im Salzburger Kunstverein (2010) und im Fotohof Salzburg (2009).
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
»Love Story«
Sammlung Anne & Wolfgang Titze
Marina Abramovic, David Altmejd, Carl Andre, Matthew Barney, Georg Baselitz, Valérie Belin, Larry Bell, Matthew Brannon, James Lee Byars, John Chamberlain, Nigel Cooke, Richard Deacon, Thomas Demand, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Olafur Eliasson, Dan Flavin, Lucio Fontana, Barnaby Furnas, Adrian Ghenie, Antony Gormley, Rodney Graham, Kevin Francis Gray, Andreas Gursky, Wade Guyton, Guyton/Walker, Eberhard Havekost, Thomas Helbig, Gregor Hildebrandt, Shirazeh Houshiary, Nathan Hylden, Kathleen Jacobs, Donald Judd, Anish Kapoor, Jacob Kassay, Anselm Kiefer, Yayoi Kusama, Claude Lévêque, Sherrie Levine, Sol LeWitt, Robert Longo, Sarah Lucas, Robert Mangold, Piero Manzoni, Christian Marclay, Agnes Martin, John McCracken, Adam McEwen, Julie Mehretu, Mario Merz, Matthew Monahan, Robert Morris, Gabriel Orozco, Damián Ortega, Giulio Paolini, Adam Pendleton, Joyce Pensato, Grayson Perry, Paola Pivi, Jaume Plensa, Seth Price, Rashid Rana, Gerhard Richter, Charles Ross, Sterling Ruby, Robert Ryman, Fred Sandback, Wilhelm Sasnal, Thomas Scheibitz, Sean Scully, Dirk Skreber, Tony Smith, Peter Stauss, Frank Stella, Rudolf Stingel, Wolfgang Tillmans, Günther Uecker, Bernar Venet, Kelley Walker, Jeff Wall, Rebecca Warren, Lawrence Weiner, Rachel Whiteread, Christopher Williams, Christopher Wool, Erwin Wurm, Lisa Yuskavage, Toby Ziegler, Thomas Zipp, Heimo Zobernig; kuratiert von Severin Dünser und Luisa Ziaja
Belvedere Winterpalais und 21er Haus, Wien
15. Juni — 5. Oktober 2014
Die Ausstellung dreht sich – wie der Titel schon andeutet – um eine Leidenschaft. Und zwar um jene, die das französisch-österreichische Sammlerpaar Anne und Wolfgang Titze mit der Kunst verbindet. Zunächst begann diese spezielle Beziehung manchen Ausdrucksformen und Materialien wie etwa der formalen Kühle der Minimal Art und der Konzeptkunst der 1960er-Jahre gegenüber zurückhaltend. Durch die intensive Auseinandersetzung – auch mit der zugänglicheren Arte Povera – entwickelte sich nach anfänglichen Vorbehalten eine gemeinsame Passion, die in einer Kunstsammlung mündete. Rund 20 Jahre später bilden Minimal Art, Konzeptkunst und Arte Povera noch immer den Kern der Sammlung, die inzwischen aber gezielt bis zu aktuellsten Positionen hin erweitert wurde. Eine Auswahl mit circa 130 Werken von rund 90 Künstlerinnen und Künstlern wird nun zum ersten Mal öffentlich gezeigt und tritt in ein reizvolles Zusammenspiel mit dem barocken Interieur des Winterpalais und der modernen Pavillonarchitektur des 21er Haus.
Im Zentrum der Ausstellung im 21er Haus treffen Arbeiten der Wegbereiter der Reduktion der 1950er-Jahre, der Minimal Art und der Konzeptkunst der 1960er-Jahre aufeinander. Jüngste Tendenzen in Malerei, Skulptur und Fotografie umkreisen diesen Knotenpunkt und nehmen Fragestellungen nach Körper, Raum, Geste und Abbild wieder auf. Zwischen Oberem Belvedere und Schlossteich konfrontiert eine Stahlskulptur von Bernar Venet den historischen Baubestand mit zeitgenössischer Formgebung – ein Leitmotiv, das sich im Winterpalais fortsetzt. Dort bringt die ortsspezifische Präsentation konzeptuelle und figurative malerische Ansätze, etwa der deutschen Nachkriegskunst, Werke der Arte Povera, moderne und postmoderne Bildhauerei in unterschiedlichsten Materialien ebenso wie aktuelle Bildfindungen in Dialog mit der ehemaligen Residenz des Prinzen Eugen von Savoyen.
Zwischen weißer Museumswand und vergoldeter Stuckatur entfalten die Exponate hier wie da eine Wechselwirkung sich anziehender Gegensätze, die nicht nur eine neue Sicht auf die Orte, sondern auch auf die in ihnen inszenierten Werke eröffnet.
Franz Graf
»Siehe was dich sieht«
Mit Exponaten von unter anderem Franz Graf und Marc Adrian, Estera Alicehajic, Theo Altenberg, Ferdinand Andri, Anouk Lamm Anouk, Nobuyoshi Araki, Magnús Árnason, Johanna Arneth, Snorri Ásmundsson, Rudolf Bacher, Franz Barwig d. Ä., Lothar Baumgarten, Selina de Beauclair, Tjorg Douglas Beer, Joseph Beuys, Binär, Herbert Boeckl, Anna-Maria Bogner, Herbert Brandl, Geta Brătescu, Arik Brauer, Günter Brus, William S. Burroughs, James Lee Byars, John Cage, Nina Canell, Ernst Caramelle, Anna Ceeh, Larry Clark, Tamara Dinka, Iris Dostal, Marcel Duchamp, Dejan Dukic, Rudolf Eb.er & Joke Lanz, Valie Export, Helmut Federle, Ernst Fuchs, Walter Gamerith, August Gaul, Ron Geesin & Roger Waters, Gelitin, Liam Gillick & Corinne Jones, Allen Ginsberg, Sara Glaxia, Gottfried Goebel, Karl Iro Goldblat, Martin Grandits, Fritz Grohs, Mario Grubisic, Kristján Guðmundsson, The Guerilla Art Action Group, Tatjana Hardikov, Friedrich Hartlauer, Carl Michael von Hausswolff, Gunnhildur Hauksdóttir, Rudolf Hausner, André Heller, Herbert Hinteregger, Benjamin Hirte, Marcel Houf, Françoise Janicot, Ali Janka, Ana Jelenkovic, Robert Jelinek, Hildegard Joos, Donald Judd, Tillman Kaiser, Felix Kalmar, Allan Kaprow, Mike Kelley, Didi Kern & Philipp Quehenberger, Richard Kern, Leopold Kessler, Martin Kippenberger, Imi Knoebel, Peter Kogler, Franz Koglmann & Bill Dixon, Zenita Komad, Svetlana Kopystiansky, Brigitte Kowanz, Angelika Krinzinger, Elke Silvia Krystufek, Zofia Kulik, Doreen Kutzke, Marcellvs L., Bruce LaBruce, Eskil Loftsson, Daniel Löwenbrück, Sarah Lucas & Julian Simmons, Victor Man, Mark Manders, Michaela Math, marshall!yeti, Otto Maurer, Paul McCarthy, Andrew M. McKenzie, Bjarne Melgaard, Cecilie Meng, Merzbow, Rune Mields, Chiara Minchio, Milan Mladenovic, Klaus Mosettig, Otto Muehl, Wladd Muta, Adam Mühl, Gina Müller, Mario Neugebauer, Hermann Nitsch, Oswald Oberhuber, Erik Oppenheim & David Kelleran, Charlemagne Palestine, Manfred Pernice, Goran Petercol, Rade Petrasevic, Raymond Pettibon, Walter Pichler, Begi Piralishvili, Elisabeth Plank, Natascha Plum, Rudolf Polanszky, Franz Pomassl, Arnulf Rainer, Raionbashi / Krube., Konrad Rapf, Jason Rhodes, Paul-Julien Robert, Gerwald Rockenschaub, Dieter Roth, Fiona Rukschcio, Runzelstirn & Gurgelstøck, Alexander Ruthner, Gerhard Rühm, Kurt Ryslavy, Nino Sakandelidze, Georg Sallner, Ed Sanders, Markus Schinwald, Eva Schlegel, Conrad Schnitzler, Philipp Schöpke, Claudia Schumann, Rudolf Schwarzkogler, Frederike Schweizer, Björn Segschneider, Jim Shaw & Benjamin Weissman, Jörg Siegert, Sigtryggur Berg Sigmarsson, Tamuna Sirbiladze, Linnéa Sjöberg, Dominik Steiger, Nino Stelzl, Curt Stenvert, Alexander Stern, Rudolf Stingel, Martina Stoian, Johannes Stoll, Ida Szigethy, Lilli Thießen, Bjarni H. Thórarinsson, Manfred Unger, Franz Vana, Jannis Varelas, Walter Vopava, Wolf Vostell, Klaus Weber, Peter Weibel, Lois Weinberger, Herwig Weiser, Wendy & Jim, Adam Wiener, Ingrid Wiener, Oswald Wiener, John Wiese, Judith Weratschnig, Stefan Wirnsperger, Eva Wohlgemuth, Helmut Wolech, Iwona Zaborowska, Thomas Zipp und Heimo Zobernig
21er Haus, Wien
29. Jänner — 25. Mai 2014
Franz Graf ist ein recht spezieller Künstler. Er lässt sich nicht leicht in die üblichen Kategorien einordnen, und seine Arbeiten bzw. sein Œuvre ist nicht einfach zu beschreiben. Er ist weder vom Typ Konzeptkünstler, Malerfürst, verkanntes Genie, Staats- oder Marktkünstler noch ein Institutionskritiker und dennoch eine Menge von all dem – und immer einen Schritt voraus, wenn es darum geht, sich allzu gängigen Strukturen und damit einhergehenden Einordnungen zu entziehen.
Nach Lehrjahren bei Oswald Oberhuber an der Universität für angewandte Kunst Wien Mitte bis Ende der 1970er-Jahre arbeitet er bis 1984 mit Brigitte Kowanz im Dunstkreis des Neo Geo. Er entwickelt in den darauffolgenden Jahren eine eigene Bildsprache, die zwar noch sehr reduziert ist, aber schon als „expressive Geometrie“(1) bezeichnet wird. Aus der Beschäftigung mit der Grundeigenheit der Zeichnung – dem dunklen Strich auf hellem Grund – erarbeitet er ein Vokabular, das im Wesentlichen auf dem Gegeneinandersetzen von Kontrasten basiert. Geometrische Formen und ornamentalisierende Symbole dominieren seine Werke, die ab Ende der 1980er-Jahre zunehmend an Körperlichkeit gewinnen. Zeitgleich erweitert er sein technisches Spektrum. Neben Trägermaterialien wie Transparentpapier kommt der spezifischen Rahmung und der installativen Integration in den Raum immer mehr Augenmerk zu. Die klassischen Medien- und Kunstgrenzen werden überschritten, Zeichnungen werden zu Skulpturen, Skulpturen zu Möbeln, Möbel zu Installationen und diese wiederum zu räumlichen Ornamentationen. Und zwischendrin Malerei, die immer mehr sein Schaffen bestimmt. Parallel betreibt er die Ausweitung seiner Handlungsfelder. Graf kuratiert, musiziert, publiziert, veranstaltet und unterrichtet schließlich auch von 1997 bis 2006 an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Die Verschränkung von Kunst und Leben findet auch im Schaffen ihren Niederschlag. Franz Graf setzt gewissermaßen eine Bildmaschine in Gang, die sich alles einverleibt, was ihr über den Weg läuft. Diese Junggesellenmaschine treibt den Künstler an, zum Sammler, Archäologen, Dokumentaristen, Forscher und Archivar zu werden und die Fundstücke dann zu einer eigenen Welt zu amalgamieren. Sie werden dabei einem alchemistisch anmutenden Vorgang unterzogen, der die Dinge neu ordnet und die daraus resultierenden Strukturen zu einer eigenen Realität verschmilzt. In diesem Universum sind die Sachen eins und existieren gleichberechtigt nebeneinander, während sie miteinander verwoben sind. Ein Symmetriebedürfnis scheint diesem Kosmos zugrunde zu liegen, das eine reine und höhere Ordnung nahelegt, in der moralische, pekuniäre, ja weltliche Gesetzmäßigkeiten keinen Nutzen zu haben scheinen. Die Weltordnung ist jenseits von Gut und Böse und nichts unterworfen: keinen Idealen, keinen Hierarchien, nur dem Transzendentalen und dem Dualismus von Schwarz und Weiß.
Und doch bleibt Graf bei all dem der Zeichnung verbunden. Deren reduzierte Darstellung ermöglicht Abstraktion bei gleichzeitiger Abbildhaftigkeit, und das verhilft den Zeichnungen an sich zur Eigenständigkeit gegenüber Motiv und reiner Signifikanz. Genau hier setzt Graf an, nutzt die natürlichen Wahrnehmungsmuster – also die instinktive Suche nach Erkennbarem –, um das Auffindbare gleich wieder unserer Realität zu entfremden und in Striche, Linien und Flächen, aber auch Ideen und Zeichen zerfallen zu lassen. Das Bezeichnende wird dabei ebenso sichtbar wie das Bezeichnete und das Bezeichnen selbst.
Diesen Schemata folgt Franz Graf auch im Großen mit seiner Ausstellung im 21er Haus. Wahrnehmungsabläufe werden forciert, ein Kosmos wird formuliert. „Siehe was dich sieht“ ist das Motto der Schau, die nicht nur Grafs Arbeiten präsentiert, sondern auch den Anspruch erhebt, durchaus repräsentativ den aktuellen Zustand eines künstlerischen Universums abzubilden und mit seinesgleichen zu kontextualisieren.
Für seine Ausstellung im 21er Haus verzahnt Graf die vielen Ebenen seines Werks erneut, um sein charakteristisches Spiel mit Leere und Fülle, Schwarz-Weiß-Kontrasten, kleinen zarten Details und großem Ikonenhaftem, Archaischem und Modernem zu treiben. Eigens produzierte und ältere Arbeiten stellt er dabei Werken von internationalen und lokalen zeitgenössischen Künstlern sowie Exponaten aus der Sammlung des Belvedere und seiner eigenen Sammlung gegenüber.
Nur ein Teil seiner Bilder ist figürlich. Schwarz und weiß sind sie alle, aber auch abstrakt und ornamental. Dann basieren sie oft auf Kreisen, wirken wie Mandalas bzw. Meditationsobjekte, die einen inneren Prozess darlegen. Andere wiederum bestehen aus Buchstabenkombinationen, die Wortfetzen bis Zitate bilden. Deren Bedeutungen können entstehen und ebenso schnell wieder zwischen den Fingern zerrinnen, um sich in neuen Bedeutungen aufzulösen. Graf geht mit Lettern wie mit seinen figürlichen Motiven um. Durchaus eklektizistisch vereint er Elemente, um sie durch seine Materialpoesie neu hervorgehen zu lassen. Die Kulturtechnik des Copy-and-Paste gehört nämlich zu seinen grundlegenden Stilmitteln – Aneignung und Verfremdung sind seine Komplizen, Struktur und Wiederholung seine Mitwisser. Zeichnungen, Fotografien, Audio- und Leinwandarbeiten, Drucke und Alltagsobjekte verschränkt Graf dabei, um offene Systeme zu schaffen, die mehr ästhetische Erfahrungsräume sind als multimediale Installationen.
In der Ausstellung ruhen dabei einige Augen auf den Betrachterinnen und Betrachtern. Verführerisch, scheu, vorwurfsvoll, verängstigt und tief sind die Blicke, mit denen Grafs Bilder mit den Besuchern kokettieren. Kein Big Brother tritt dem Rezipienten entgegen, sondern Bilder auf Augenhöhe. Wie Spiegel werfen sie den Blick zurück auf die Betrachtenden, machen in ihrer Eindringlichkeit das Schauen zum unmittelbaren Thema: als Bewusstwerden zunächst des eigenen Schauens und in weiterer Folge des Erkennens und Wahr-Nehmens.
Aber der Titel „Siehe was dich sieht“ impliziert auch eine Wechselseitigkeit. Er deutet an, dass zu erwarten ist, dass man nicht nur sieht, sondern auch gesehen (und gelesen) wird. Die Frage, die man sich in Folge stellt, war auch Ausgangspunkt für die Konzeption der Ausstellung: Wie kann man sehen, ohne sich dabei durch das Präsentieren des eigenen Schauens abzulenken und in repräsentativen Gesten zu erstarren?
Aus praktischer Ausstellungseröffnungserfahrung weiß man: Es gibt kein Entrinnen. Entweder man gewöhnt sich an den Gedanken, noch mal allein zum Schauen zu kommen, oder man versucht, sich natürlich zu verhalten und das Risiko der Ablenkung auf sich zu nehmen. Für die Ausstellung haben wir uns für Letzteres entschieden. Also eigentlich dafür, das Schaffen nicht zu isolieren und zu stilisieren, sondern es mit all dem zu zeigen, das es bedingt und umgibt.
Den Rahmen dafür bildet eine Architektur aus Elementen, die normalerweise im Gerüst- und Bühnenbau verwendet werden. Das Display besteht aus Trägermaterial, das durchaus buchstäblich eingesetzt wird, um Strukturen sichtbar zu machen, die ansonsten im Hintergrund bleiben. Das Präsentieren geht also eine Symbiose ein mit dem unmittelbaren Zeigen der Konstruiertheit der Repräsentation. Die Summe der Teile ergibt nicht nur eine überbordende Ausstellung im Hauptraum des 21er Haus, sondern gleichsam eine Bühne, auf der Franz Graf während der Laufzeit seine Installation permanent erweitert, Exponate umstellt und umhängt und regelmäßig Performances und kollaborative Kunstproduktionen stattfinden. Besucherinnen und Besucher betreten also eine Bühne und werden gemeinsam mit Graf, eingeladenen Künstlern und den in Beziehung zueinander gesetzten Werken zu Protagonisten eines Prozesses der ständigen Adaption an die Umstände. Aber ist dabei sein nun alles? Kann die Ausstellung so aus den Repräsentationsmustern ausbrechen und einen unmittelbaren, sinnlichen Zugang, ja gar ein Durchdringen der Welt von Franz Graf versprechen? Selig sind wohl, „die nicht sehen und doch glauben“(2).
(1) Donald Kuspit, in: Franz Graf (Ausstellungskatalog, Galerie nächst St. Stephan, 22. Oktober – 26. November 1988), Wien 1988
(2) NT, Johannes 20,29.
Sarah Ortmeyer
»KOKO PARADISE«
21er Raum im 21er Haus, Wien
5. Februar — 17. April 2016
KOKO PARADISE ist der letzte Teil eines Ausstellungstriptychons von Sarah Ortmeyer. Zeitlich versetzt, an drei verschiedenen Orten (Paris, New York und Wien) verhandelt die KOKO-Trilogie Eskapismus und Habsucht. KOKO PARADISE zeigt Palmen in trauriger Schönheit.
Sarah Ortmeyer wurde 1980 geboren und lebt in Wien. Ihre Arbeiten waren u.a. im Tel Aviv Museum of Art (2016), im Monnaie de Paris (2015), im Swiss Institute, New York (2014), im Palais de Tokyo, Paris (2013), im Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Gent (2012), im Museum of Modern Art, Warschau (2012), im Frankfurter Kunstverein (2011), im MAK Center, Los Angeles (2010), im Stedelijk Museum Bureau, Amsterdam (2009) und im KW Institute for Contemporary Art, Berlin (2009) zu sehen. Am Valentinstag dieses Jahres eröffnet ein neues Projekt in Kollaboration mit Andrew Wyatt im MoMA PS1 in New York.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0
Simon Dybbroe Møller
»Lettuce«
21er Raum im 21er Haus, Wien
5. Dezember 2015 — 31. Jänner 2016
Auf alles, was wir schauen, schauen wir mit Fotografie. Wir sehen ein schwarzes Marmorstück, wie es oft in Nassräumen und an Gedenkstätten, in Badezimmern, Küchen und an Gräbern verwendet wird, und nehmen sein Glänzen wahr. So fotografisch. Seht seine weißen Adern an, die Schneckenhäuser und die Muscheln. Und schaut, wie es dem Druck von einem beschädigten Negativ ähnelt. Fotografie avant la lettre.
Fotografie ist heute natürlich etwas anderes, und die anwachsende Horde technikbegeisterter Männer, die Reviews über neues Kameraequipment postet, bewegt sich auf schwierigem Terrain. Um die visuellen Möglichkeiten des nicht enden wollenden Stroms neuer digitaler Ausrüstung zu untersuchen und zu besprechen, muss sie ihre Linse auf etwas anderes richten – sie muss sich ein Motiv suchen. Meist läuft das auf Frauen oder Vögel hinaus.
Z. B. auf einen Kormoran, der auf einem alten, verwitterten Holzpfahl seine Flügel trocknet: Seine jesusähnliche Silhouette und der Stolz seiner Haltung spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Man sagt, der Kormoran sei der urzeitlichste aller heute lebenden Vögel, er stamme aus der Zeit der Dinosaurier. Er habe im Gegensatz zu anderen Wasservögeln keinen Ölfilm entwickelt, der ihn davor schützt, durchnässt zu werden. Und deswegen posiere er wie am Kruzifix: weil er seine Federn im Wind trocknen müsse. Was für ein Anachronismus. Eine konstruktivere Stimme würde den Kormoran anders umschreiben und erklären, dass die meisten Lebewesen von Natur aus schwimmfähig seien, aber dass das für Tauchvögel ein Problem darstelle. Es heißt, der Kormoran schlucke Steine, um sein Gewicht zu erhöhen. Seine wichtigste evolutionäre Anpassung ist allerdings seine offene Federstruktur, die keine auftriebsteigernde Luft speichert, sondern stattdessen Wasser aufnimmt. Wie auch immer: Stellt euch durchnässte Federn vor. Stellt euch andererseits Wassertropfen auf einer wasserabweisenden Oberfläche vor. Und lasst uns darüber im Zusammenhang mit analoger und digitaler Bilderzeugung nachdenken.
Das nasse weiße T-Shirt war vielleicht der Höhepunkt der Anrüchigkeit in der alten Welt. Ein letztes Zucken des Analogen vor unserem Abstieg in ein gewichts- und altersloses Universum voller Silikon und Botox – die Taxidermie der Technosphäre –, in das gewachste Universum des Virtuellen. Erinnert ihr euch an Sabrina und Boys Boys Boys? Und an Samantha Fox? Wie diese Sängerinnen weiße Baumwolle und Wasser instrumentalisiert haben, um Bilder ihrer deftigen Körper zu produzieren, hat verschleiert und hervorgehoben. Die Bilder wirkten, als ob sie die glatte Oberfläche der glänzenden Magazine überwinden könnten, indem sie die Fluidität der analogen Entwicklung und die Klebrigkeit der Emulsionsbeschichtung des fotografischen Abzugs wiederholten. Tits and ass oder draperie mouillée. Ein Jahrhundert vorher modellierte der realistische Künstler Constantin Emile Meunier seine monumentale Skulptur Der Schiffslöscher und stellte sein Sujet in feuchtem, klebrigem Gewand dar. In dieser Fantasterei ist sogar das Durchnässte fest und das Durchtränkte stählern. Die Patina der Bronze erinnert an alte Schwarz-Weiß-Fotografien mit Sepiatönung, und der Mangel an Schattierungen verschmilzt den Körper mit der Kleidung.
Es ist sicher kein Zufall, dass bei Anleitungen zur digitalen Bildproduktion perfekt ausgeformte Tropfen an den Oberflächen von Dingen eine so große Rolle spielen. Wie die technisierte Bekleidung der Outdoor-Sport-Industrie bewohnen die Bilder von ihnen eine Welt der Undurchdringlichkeit. Wir wissen, dass die perfekten Wassertropfen auf hellen grünen Blättern, die unsere Desktop-Hintergründe verzieren, nicht natürlich dort aufgetaucht sind. Wir wissen, dass sie dort platziert und dann kunstvoll beleuchtet wurden. Möglicherweise sind sie überhaupt nicht aus Wasser, sondern aus Gelatine oder Kunstharz, wenn nicht überhaupt Produkte digitaler Nachbearbeitung. Sie durchnässen nichts, selbst wenn sie auf absorbierenden Oberflächen liegen, und sie verdunsten auch nicht. Wir haben es hier mit digitaler Bildproduktion zu tun, mit Idealen. Kein Asche zu Asche, Staub zu Staub, sondern eine Welt, in der die Dinge Grenzen haben, eine Welt ohne Entropie, ein Universum ohne Verfall. Wie frischer Salat, der auf der polierten stählernen Arbeitsplatte eines minimalistischen Küchenblocks liegt – mit seinen weißen Adern, die die neongrünen, durchscheinenden Farbnuancen seiner Blätter durchziehen, und mit seiner Objekthaftigkeit, die durch die Spiegelung auf der Metalloberfläche noch verstärkt wird – so kalorienarm, dass die Verdauung gleich viel Energie kostet, wie der Salat selbst liefert.
— Simon Dybbroe Møller
(Übersetzung: Severin Dünser)
Simon Dybbroe Møller wuchs in Grönland auf und lebt in Berlin. Seine Arbeiten waren zuletzt u. a. im Centre Pompidou, Paris, im Musee d’Art Contemporain de la Ville de Paris, im Kunsthaus Glarus und bei Ludlow 38 in New York (alle 2015) zu sehen. Demnächst werden seine Arbeiten im Le Plateau, Paris, im MOCA Cleveland sowie in der Kunsthalle São Paulo gezeigt.
Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0