Anna-Sophie Berger

»let rise, let go«

 

21er Raum im 21er Haus, Wien

6. — 30. November 2014

 

Betritt man die Ausstellung von Anna-Sophie Berger im 21er Raum, nimmt man rasch einen Duft wahr: und zwar den Duft von frisch gebackenem Brot, das an mehreren Stellen im Raum auftaucht. Brot als Grundnahrungsmittel steht für das Stillen elementarer und existenzieller Bedürfnisse – nicht von ungefähr spricht man vom Broterwerb und dem täglich’ Brot. Es ist Symbol für das Aufkeimen menschlicher Kultur, ist religiöses Sinnbild und steht für die Ernährung, genauso wie es Soziales impliziert.

Bei Anna-Sophie Berger ist es auch ein Mittel zur Entschleunigung, das der eigenen Entwurzelung entgegenwirkt: Die Künstlerin reist durch die Weltgeschichte und ist kaum mehr als eine Woche an einem Ort. Brot selbst backen, und das gemeinsam mit ihrer Mutter, ist da ein guter Gegenpol zum Alltag der Digital Native. Brotmachen ist aber auch etwas, das dem klassischen skulpturalen Schaffen nahe kommt, wenngleich die Objekte ephemer sind. Sie sind nicht auf Haltbarkeit hin angelegt und erhärten mit zunehmender Dauer der Ausstellung. Danach werden sie zerkleinert und an Tiere verfüttert – der Kreislauf wird also geschlossen.

Die Brote stehen in ihrer organischen Labilität für eine unmittelbare Realität und in einem Gegensatz zu den Stoffbahnen mit ihren Motiven. Diese, gedruckt auf verschiedene Polyesterstoffe, die natürliche Textilien imitieren, beziehen sich ebenso auf das Leben der Künstlerin. Sie stammen aus einer Vielzahl von mit dem Mobiltelefon aufgenommenen Schnappschüssen, mit denen Berger ihren Alltag fragmentarisch dokumentiert. Sie selbst beschreibt die Bilder als „visuellen Output oder Illustration von Denkprozessen“ und sieht die Stoffrollen als „Versuch, sich mit Material und Information auseinanderzusetzen“. 

Die bis zu 20 Meter langen Stoffbahnen wiederholen jeweils ein Motiv, das dadurch mit Bedeutung aufgeladen wird. Durch das Pixelrauschen werden die vergrößerten Bilder poetisch, vermitteln Nähe, verklären jedoch eher, als dass sie eine Situation dokumentieren. Abgebildet sind eine Schachfigur aus dem Cloisters-Museum in New York, Edelsteine aus dem Wiener Naturhistorischen Museum, Molekularküchenkost und Eierschalen. Die Wahl der Motive ist nicht beliebig. Einerseits sind ganze und fragmentarische Objekte dargestellt, andererseits natürliche oder kulturelle Artefakte und Bilder von Nahrungsmitteln oder Gerichten. Die Gegenüberstellung spiegelt auf der einen Seite die Wahrnehmung eines bestimmten Raumes wider, den Berger als Künstlertouristin einnimmt, und andererseits die tägliche Ernährung, unabhängig von einem spezifischen Umfeld.

Beide Bereiche sind voller zeitgenössischer Zweifel und Fragen nach kultureller Verwurzelung, Internationalität, Identität, Standort, Geopolitik und moralischer Haltung – ähnlich wie die Sätze und Satzfetzen auf den Glasarbeiten. Als Notizen in einem ähnlichen Zeitraum wie die Fotos entstanden, zeugen sie von einer Zerrissenheit, einem Schwanken zwischen den Möglichkeiten. Es sind Fragmente von Gedanken, die den Alltag bestimmen.

Was soll man essen, wenn sich persönliche Gefühle und soziale Prägung genauso im Konsumverhalten ausdrücken, wie es ökologische und ethische Überlegungen tun sollten, während man die finanziellen Möglichkeiten im Auge behalten muss? Wie können Bedürfnisse nachhaltig befriedigt werden, wofür kann man noch Verantwortung übernehmen? Und in welchem Verhältnis soll das Leben zu seiner virtuellen Repräsentation stehen?

Bergers Ausstellung im 21er Raum setzt sich mit den komplexen Verflechtungen zwischen sozialen Bedürfnissen, politischer Verantwortung und ökonomischer Wirklichkeit auseinander. Das Verlangen nach bestimmten Dingen scheint das Vermögen, eigene Entscheidungen hinreichend abzuwägen, zu übersteigen. Die Unmöglichkeit, das Richtige zu tun, spiegelt sich so in einem Leben zwischen Widerstehen und Nachgeben, kalt und warm – Seide und Baumwolle. Während Bergers Arbeiten versuchen, eine Balance zwischen der Immaterialität der digitalen Welt und einer immer noch physischen menschlichen Existenz auszuloten, verhandeln sie letztlich auch, was Material eigentlich ist. Was sind die Form und Textur eines Bildes? Alle Motive in der Ausstellung stellen spezifische physische Texturen dar, die durch ein digitales Verfahren gegangen sind, um schlussendlich auf Materialien gedruckt zu werden, die ihrerseits künstliche Repräsentationen von natürlichen Oberflächenqualitäten sind. Wenn Sie nun ob des Status der daraus entstehenden Produkte verwirrt sind, hat Anne-Sophie Berger Sie genau da, wo sie Sie haben will: beim Sich-selbst-in-Relation-Setzen zu einer Welt im Umbruch, die aufgrund einer Ununterscheidbarkeit von Ding und Abbild immer schwerer greifbar wird.

 

Anna-Sophie Berger arbeitet mit den Eigenheiten von Material und Produktion, dem Kontext der daraus hervorgehenden Objekte und deren Distribution. Sie spielt mit den Grenzen zwischen Disziplinen und setzt fließende Übergänge ein, um einen Blick hinter die Oberflächen des Alltags im 21. Jahrhundert zu werfen. Ihr Interesse gilt der täglichen Spannung zwischen materieller Realität, den sinnlichen Bedürfnissen eines sozialen Wesens und dem zunehmend digitalen Wahrnehmen des Lebens. 

Anna-Sophie Berger wurde 1989 in Wien geboren, wo sie auch lebt und arbeitet. Ihre Arbeiten waren zuletzt in Ausstellungen bei Mauve (Wien), JTT (New York), Mathew (Berlin), Futura (Prag), Tanya Leighton (Berlin) und Clearing (Brüssel) zu sehen.

 

Katalog zur Ausstellung:
21er Raum 2012 – 2016
Herausgegeben von Agnes Husslein-Arco und Severin Dünser
Mit Texten von Severin Dünser, Simon Dybbroe Møller, Paul Feigelfeld, Agnes Husslein-Arco, Lili Reynaud-Dewar und Luisa Ziaja über Ausstellungen von Anna-Sophie Berger, Andy Boot, Vittorio Brodmann, Andy Coolquitt, Simon Dybbroe Møller, Iman Issa, Barbara Kapusta, Susanne Kriemann, Adriana Lara, Till Megerle, Adrien Missika, Noële Ody, Sarah Ortmeyer, Mathias Pöschl, Rosa Rendl, Lili Reynaud-Dewar, Anja Ronacher, Constanze Schweiger, Zin Taylor, Philipp Timischl, Rita Vitorelli und Salvatore Viviano
Grafikdesign von Atelier Liska Wesle, Wien/Berlin
Deutsch/Englisch
Softcover, 21 × 29,7 cm, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe
Belvedere, Wien, 2016
ISBN 978-3-903114-18-0