Lois Weinberger

»Basics«

 

Belvedere 21, Wien

1. Juli – 24. Oktober 2021

 

Grundlegendes

 

Er trägt einen Muschelschmuck unter der Nase, als würde er einer indigenen Gemeinschaft angehören. Der Mann auf dem Cover dieses Katalogs trägt außerdem Brille und Hemd, der Blick ist gesenkt und ernst. Das Gesicht gehört Lois Weinberger, er hat es grün gefärbt. Wieso zeigt er sich uns so? Will er uns mit einem Stereotyp des „zivilisierten Wilden“ provozieren? Oder verkörpert er einen Gregor Samsa, der sich eines Morgens „in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“[1] fand?

 

Franz Kafkas Figur zerbricht am Gegensatz zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung. Sie fühlt sich als Mensch, wird aber behandelt wie ein Tier. Sie scheint das „Andere“ zu sein, während in ihr doch das „Eigene“ verborgen liegt. Gregor Samsa ist als vermeintlich instinktgetriebener Käfer die Personifikation der Natur im Kontrast zum rationalen Menschen und seiner Kultur.

 

Als ebenso triebgesteuert wird Aristaeus in Vergils ‚Georgica‘[2] gebrandmarkt, der Eurydike, die Frau des Orpheus, vergewaltigen will. Auf der Flucht vor ihm wird sie von einer Schlange gebissen und stirbt. Als Reaktion darauf töten ihre Schwestern Aristaeus’ Bienen. Daraufhin will Aristaeus das Wohlwollen der Götter wiedererlangen und opfert am Grab der Eurydike vier Stiere und vier Kuhkälber. Neun Tage später entsteigen den Tierkadavern Bienen.

 

In der Gestalt eines Tieres manifestiert Kafka den Nonkonformismus seiner Figur, die nicht den Erwartungen entspricht, die die Gesellschaft an sie stellt. Sein Charakter zieht sich schließlich so weit von der Gesellschaft und ihren Verhaltensweisen zurück, dass er stirbt. Ein tröstlicheres Ende gibt es aber für Vergils Aristaeus. Er reflektiert seine Tat und demonstriert seine Rückkehr zu zivilisiertem Verhalten in Form einer Opfergabe. Die verwandelt sich in Bienen, die Aristaeus in Folge seines Handelns zuvor verloren hat.

 

In beiden Geschichten prallen Natur und Kultur aufeinander, werden klare Grenzen gezogen und überschritten. Das sind Parallelen zum Œuvre von Lois Weinberger, allerdings streifen sie nur den thematischen Kern seines Selbstporträts. Anders als in den beiden Erzählungen geht es dabei nicht um Moral, sondern um Relationen. Aber mit Vergils Bienen hat es dennoch mehr zu tun als mit Kafkas Käfer. Denn in der Antike war es eine gängige Vorstellung, dass Bienenvölker aus Rinderkadavern entstehen. Dieses Werden aus Vergehen kommt dem nahe, was Weinberger in der Fotografie personifiziert. Er stellt nämlich kein Käferwesen dar, keinen „zivilisierten Wilden“ und schon gar kein grünes Männchen, sondern den „Grünen Mann“.

 

Der „Grüne Mann“[3] ist eine Figur, die in der christlichen Sakralarchitektur immer wieder auftaucht. Im Motiv des Gesichts, aus dem Blätter sprießen, werden Mensch und Pflanze zu einem Mischwesen vereint. Der Ursprung der Figur wird in vorchristlicher Zeit vermutet. Als Ausdruck polytheistischer Religionen könnte der „Grüne Mann“ auf persische, keltische und römische Symbolik zurückzuführen sein. In römischen Tempeln wurde Blattwerk mit Menschen als dekoratives Element eingesetzt, was möglicherweise in der Folge in christlichen Kirchen übernommen wurde, um eine legitime Nachfolge zu verdeutlichen. Als kulturelle Appropriation könnten aber auch bestehende lokale Glaubensvorstellungen in die christliche Ikonografie integriert worden sein. Und so lässt der Archetyp auch mehrere Deutungsmöglichkeiten zu. Sie reichen von der Anlehnung an pagane Vorstellungen eines Waldgottes, der für eine Symbiose zwischen Mensch und Natur steht und Wachstum und Prosperität symbolisiert, hin zum Waldgeist, der im Gegensatz zum Licht der christlichen Offenbarung die dunkle, ungebändigte und gefährliche Natur verkörpert, bis zum Kopf, der von Pflanzen überwuchert wird und als Memento mori die Vergänglichkeit allen Seins in Erinnerung ruft.[4]

 

So wie der Kopf des „Grünen Mannes“ als Pars pro Toto für den Menschen steht, laufen in Lois Weinbergers Selbstporträt die wesentlichen Themenkomplexe seines künstlerischen Œuvres zusammen. Es geht um existenzielle Fragen des Verhältnisses zwischen Subjekt und Welt: Was konstituiert mein Sein? Wie ermächtigen und beschränken mich kulturelle Prägung, persönliche und familiäre Geschichte und geografische Umstände? Was bedeuten die Rationalisierung und die damit einhergehende Entfremdung von der Natur? Sind Natur und Kultur überhaupt ein Gegensatzpaar, ist die Kultur nicht Teil der Natur? Und kann ich mein Sein überhaupt außerhalb der Natur denken?

 

Weinbergers Antworten sind eine Synthese verschiedenster Einflüsse aus Philosophie (Roland Barthes, Gregory Bateson, Emil M. Cioran, Gilles Deleuze und Félix Guattari, Martin Heidegger), Soziologie und Cultural Studies (Stuart Hall), Ethnologie (Hans Peter Duerr, Hubert Fichte, Michel Leiris, Claude Lévi-Strauss, Aby Warburg), Kunst- und Kulturgeschichte (Kathleen Basford), Biologie (Rupert Riedl, Erwin Schrödinger, Edward O. Wilson) und Literatur (Jean Genet, Peter Handke, Pier Paolo Pasolini, Laurence Sterne, Henry David Thoreau, Vergil). Wie man an seinen Buchempfehlungen sehen kann, interessiert er sich meist für disziplinenübergreifende Werke mit poststrukturalistischer Tendenz und ganzheitlichen Ansätzen (die er auch im östlichen Denken findet). Er entwickelt eine individuelle ökologische Philosophie, „eine ethisch-politische Verbindung zwischen den drei Bereichen von Umwelt, sozialen Beziehungen und menschlicher Subjektivität“, wie es Guattari für seine eigene Ökosophie zusammenfasst.[5]

 

Und wie Guattari und Deleuze ist Weinberger „des Baumes müde“[6]. Den Baum als Modell für hierarchisch und dichotomisch strukturierte Wissenssysteme wollen Deleuze und Guattari durch das Rhizom ersetzen. Dieses übt im Gegensatz zur starren Gliederung des Baums keine ordnende Deutungshoheit aus, sondern ist eine komplexe Struktur aus Querverbindungen, die keine Abhängigkeiten kennt, sondern nur Beziehungen. Es soll nicht um Kategorien und Zustände gehen, sondern um Vektoren in einer Performanz der Information. Und so gestaltet auch Weinberger sein Œuvre nicht wie einen Bildungsroman, in dem sich das eine aus dem anderen ableitet, sondern als heterogenes Gewächs, in dem ein komplexes Miteinander von verschiedenen gleichberechtigten Narrativen immer wieder neue Verbindungen herstellen kann.

 

Weinbergers Ausstellung ist Ausdruck dieser anarchischen Interrelationalität. Sie ist die letzte Schau, für die er selbst noch eine Auswahl von Werken zusammengestellt hat. Und sie ist keine Retrospektive, die sein Œuvre in Schaffensphasen unterteilt oder als Entwicklung begreifbar machen will. ‚Basics‘ versammelt zwar Werke aus den Jahren von den 1970ern bis 2020, fokussiert aber auf die Wechselwirkungen innerhalb dieses künstlerischen Ökosystems. Welche Fließbewegungen lassen sich also in den mäandernden Kreisläufen der Ausstellung nachvollziehen?

 

Die „Basics“, die den meisten Werken zugrunde liegen, vermitteln Weinbergers Verständnis von Natur. Vor dem Hintergrund des zunehmend als problematisch diskutierten Umgangs der Menschen mit der Natur und seiner Symptome wie Umweltverschmutzung und Klimawandel scheint es eine existenzielle Notwendigkeit zu geben, das Verhältnis kritisch zu hinterfragen. Den praktischen Lösungsvorschlägen für das Restaurieren der Umwelt, die eine Idealvorstellung von einer reinen, unberührten Natur implizieren, schließt sich Weinberger dabei nicht an. Er begreift die Wurzeln des Problems als viel tiefer liegende Fragen des menschlichen Selbstverständnisses. Kultur und Natur sieht er nicht als Gegensatzpaar, den Menschen nicht über oder neben der Natur stehend, sondern als Teil von ihr. Es geht ihm nicht um eine versöhnliche Rückkehr zur Natur, vielmehr um einen Paradigmenwechsel, in dem das anthropozentrisch geprägte Verständnis der Beziehung und die damit verbundenen Projektionen auf die „Umwelt“ ersetzt werden durch eine gesamtheitliche Perspektive, in der der Mensch gleichberechtigt wie andere Phänomene wahrgenommen wird und in der der Natur dadurch Autonomie gegenüber unseren Projektionen zugesprochen wird.[7] ‚Skulptur La Gomera‘ etwa, ein Strauch, auf dem Schuhsohlen hängen, könnte man im Sinne des Surrealismus interpretieren. Aber es ist eigentlich eine realistische Darstellung, in der menschliche Erzeugnisse ganz selbstverständlich – als wären sie Blätter oder Früchte – von einer Pflanze getragen werden. Das trifft ebenso auf ‚Baumskulptur‘ zu, die allerdings einen Kübel trägt, als wäre er ein Lampenschirm. Auch ‚Roter Faden‘ ist eine Veranschaulichung einer alles umfassenden Natur. Das Kulturprodukt wird von Vögeln zum Bau eines Nests verwendet, das schließlich von einem Baum umwachsen wird. In ‚Invasion‘ wird der Raum der Kultur – der Ausstellungsraum – von Pilzen durchdrungen, während in ‚Raum‘ eine Pflanze in einer improvisierten Architektur isoliert wird – oder der Künstler sich und die Pflanze „in den White Cube hineingeträumt“ hat, wie Franziska Weinberger es formuliert.[8] Die Gräser, die in ‚Zopf‘ wie Haare zusammengeflochten wurden, sind ebenso als übergriffige Geste lesbar wie die Aquarelle aus der Serie der ‚Wildniskonstruktionen‘, die das Konzept der „Wildnis“ als menschliches Konstrukt und (ab-)wertende Kategorisierung offenlegen.[9]

 

Die Müllhalde, die Weinberger in ‚Hiriya Dump‘ in einen Freizeitpark verwandeln will, soll die verdrängten Reste unserer Konsumträume wie in einer Ausgrabungsstätte, die gleichsam eine Kulturlandschaft darstellt, erfahrbar machen. Die Kultur als Natur – darin liegt auch das Wesen des Gartens. Die Geschichte des Gartens beginnt mit der Sesshaftwerdung des Menschen. Diese war eine der Voraussetzungen für den Anbau von Pflanzen, und mit ihr entwickelte sich das Konzept des Besitzes ebenso wie die Kultivierung von Grünflächen, die der Idee der Ordnung von Natur zugrunde liegt. Das Ordnen wandelte sich schließlich zu einem Unterordnen, und die ersten großen Zivilisationen schufen dafür geeignete Behelfsstrukturen wie Zäune und Mauern, innerhalb derer sie Gärten anlegten.[10] Die Gärten waren Ausdruck von Fruchtbarkeit und Wohlstand. Sie dienten nicht nur zur Naherholung, sondern waren als Abbild eines Reichs auch Symbol für die Herrschaft über alle Dinge innerhalb der eigenen Grenzen. Der Metaphorik des Gartens entgegnet Weinberger mit ‚Gebiet I‘: Im urbanen Raum sammelt er Wildpflanzen, die er auf einer angemieteten Freifläche vermehrt, um sie dann an Brachstellen auszusiedeln, denen er andere Pflanzen entnimmt, die er wiederum in der Stadt aussetzt. Mit dieser „Ruderalgesellschaft“ beschleunigt er Wanderbewegungen und negiert der Umwelt gegenüber willkürlich gezogene Grenzen für Lebensräume. Wenn er der Marginalisierung entgegenwirkt, hat das durchaus eine politische Konnotation, die er mit seinen ‚Portable Gardens‘ unterstreicht. Diese bestehen aus PVC-Taschen, die mit Erde gefüllt und aufgestellt werden, um von Wind und Tieren verstreuten Samen eine Heimat zu bieten. Die Behältnisse sind nicht zufällig gewählt, sie stellen einen Konnex zu Immigrantinnen und Immigranten her, die in diesen Kunststofftaschen oft ihr gesamtes Hab und Gut mit sich tragen.[11] Für seinen ‚Wild Cube‘ zieht er dagegen selbst Grenzen. Dieser ist das Gegenteil des White Cube und ein buchstäblicher hortus conclusus[12]. Nur sperrt er nicht die Natur in einen Käfig, sondern den Menschen davon aus. Er ist ein Asyl für Flora und Fauna und führt die ungebändigte Kraft der Natur vor Augen.

 

Mit ‚Laubreise‘ wird der Blick dagegen auf Prozesse gelenkt. ‚Laubreise‘ ist in Zusammenarbeit mit Franziska Weinberger entstanden, die ab 1999 als Mitautorin an einzelnen Projekten im öffentlichen Raum beteiligt ist.[13] Und das Zusammenwirken ist dieser Installation inhärent: Laub, Grünschnitt und Algen sind darin zu einem Quader aufgetürmt, der von Bodenorganismen langsam zersetzt wird. Die alchemistisch anmutende Umwandlung von „Abfall“ in nährstoffreichen Humus bringt dabei auf kleinem Raum eine Atmosphäre des Abjekten mit sich. Die sinnliche Erfahrbarkeit der Metamorphose verdeutlicht die transitorische Qualität allen Seins – die Kreisläufe aus Werden und Vergehen, denen auch wir unterliegen.

 

Eine Durchgangssituation beschreiben auch die Werke aus der Serie der ‚Wege‘. Wege sind gleichsam das Trennende zwischen Gebieten wie auch verbindendes Element. Wenn Martin Heidegger der Gesamtausgabe seiner Schriften das Motto „Wege – nicht Werke“ voranstellt, das Denken mit dem Beschreiten von Pfaden gleichsetzt und damit mit dem Selbsterkennen innerhalb der Welt,[14] dann verweist er auf ein Geflecht aus Bewegungen, die das Dasein als einen Akt der Differenzierung umschreiben. Diese Strukturen aus Vektoren thematisiert hier auch Weinberger, wenngleich er statt Straßennetzen oder Adern die Fresswege von Borkenkäfern heranzieht, deren funktionale Logik der Wegführung uns verborgen bleibt. Die Funktion von Wegrandhäuschen ist dagegen nachvollziehbar. Weinberger hat sie in Griechenland kennengelernt, wo sie nicht nur Gedenkstellen für Verunglückte sind, sondern auch Orte, an denen für Vorbeikommende Dinge bereitgestellt werden, die diese eventuell benötigen könnten. Den philanthropischen Gedanken nimmt der Künstler für sein ‚Wegrandhaus‘ auf, das er mit Gedichten auf Zetteln bestückt, die man (in Analogie zu Wanderpässen, in denen mit Gipfelstempeln die zurückgelegten Wege dokumentiert werden) mit Borkenkäferwegen bedrucken kann.

 

Einen anderen Typus der Behausung kommentiert Weinberger mit seinem ‚Hochhaus für Vögel‘. Das menschliche Rationalisieren von Wohnraum überträgt er dabei auf die Tiere und kritisiert damit die Unwürdigkeit von Lebensumständen, die dem Motiv der Effizienzsteigerung unterliegen. Heidegger sieht im Wohnen das Wesen des Seins und im Bauen dessen Abbilden in seiner Prozesshaftigkeit.[15] Dieses Verhältnis zwischen Wohnen und Sein innerhalb des Gebaut-Seins eines Hauses interessiert auch Weinberger, und er spürt ihm in seiner vielteiligen Arbeit ‚Debris Field‘ nach. Rund siebenhundert Jahre Geschichte versammelt der Künstler darin in Form unzähliger Fundstücke, die er aus dem elterlichen Bauernhof in Stams, in dem er aufgewachsen ist, geborgen hat. Er kehrt mit einer Psychoarchäologie nicht nur zu seinen Wurzeln zurück, sondern gräbt sie auch aus: Mit seiner Ausgrabung erschließt er das „Trümmerfeld“ seiner persönlichen Herkunft und bildet gleichzeitig ein Referenzsystem des bäuerlichen Alltags.

 

Die Atemschutzmaske, die er bei den Freilegungen getragen hat, setzt Weinberger seiner Skulptur ‚Bischof‘ auf. Die Religiosität, die auch fester Bestandteil des bäuerlichen Lebens in Stams war, wird in der Figur, die mit ihrem Wurzelgesicht auch das Motiv des „Grünen Mannes“ in sich trägt, als verbindendes Element zwischen Kulturen dargestellt. Die Abhängigkeit von der Natur, die das Bauernleben mit sich bringt, erzwingt eine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Beobachtungen unerklärlicher Phänomene wurden, wenn nicht durch religiöse, dann durch magische Zusammenhänge erklärt. Das unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was Claude Lévi-Strauss mit dem „wilden Denken“ umschreibt, in dem naturnah lebende Kulturen verschiedene Fragmente ihrer Wahrnehmung nicht rationalisieren, sondern in einer Patchworkarbeit zu Geschichten verweben, die ihre Beobachtungen direkt einordenbar machen. Um bestimmte Situationen herzustellen oder abzuwenden, bedarf es der Durchführung von Ritualen, denen eine unmittelbare Wirkung zugeschrieben wird. Ein solches vollführt Weinberger in ‚Home Voodoo I‘, in dem lokales Brauchtum und familiäre Mythologie sich mit Voodoo, Katholizismus und Heidentum zu einer humoristischen Zeremonie verbinden. Es ist ein Reinigungs- und Befreiungsritual, dessen Vorgangsweise er als „chthonisch – aus der Erde kommend“ bezeichnet. Das trifft auch auf ‚Basics – Die Idee einer Ausdehnung‘ zu. Die sieben Skulpturen, die wie unfertige Golems daliegen und ihrer Gestaltwerdung harren, sind aus Holzstücken und einem Erdgemisch geknetet worden. Die lehmigen Urformen verweisen sowohl auf den Prozess der Entwicklung als auch auf lustvolle Schöpfung. Sie veranschaulichen das Werden als rhythmische Performativität der Natur und Grundbedingung des Seins.

 

Das Prinzip dieser sich wiederholenden Richtungsänderung, die viele Werke von Lois Weinberger nachzeichnen, ist ein Modell, das das Wesen des Seins als permanente Verwandlung begreift: Nichts ist, alles wird beziehungsweise „alles fließt“, um es mit Heraklit zu sagen. Auch die Ausstellung ‚Basics‘ kann man als Flechtwerk aus Vektoren sehen, die mögliche Wege definieren, um sich selbst und sein Denken durch das Œuvre des Künstlers zu bewegen. Dieses wuchernde Rankenwerk entstand durch einen, der von einem Bauernhof auszog, um vom Kunstschmied und Schlosser zum Schauspieler und schließlich zum Künstler zu werden. Durch einen, der vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung und in Zeiten eines kulturellen Umbruchs sozialisiert wurde und sich zwischen Minimal Art, Land Art, Wiener Gruppe, Surrealismus und den Jungen Wilden seinen eigenen Weg einer Konzeptkunst bahnte. Durch einen, der nicht wie Joseph Beuys die Stadt kontrolliert begrünen wollte, sondern den Wildwuchs unterstützte und auch das Randständige in den Vordergrund treten ließ. Lois Weinberger war einer, der wurde – auch zum „Grünen Mann“, der Werden und Vergehen ebenso in ihrer Unausweichlichkeit zu verkörpern wusste. Und er war einer, der ging, um zu bleiben: „Wenn sich alle Pflanzen von meinem / ihnen zugedachten Ort entfernt haben / was ohnehin geschieht / werde ich nicht mehr der Gärtner sein / doch unschuldig die Vielfalt nützen. Die Essenz meines Gärtnertums hat sich zu einem einzigen / im Freien stehenden / mit schlechter Erde gefüllten Blumentopf verdichtet / zu einem transportablen Garten / der auf Begehungen außerhalb mitzunehmen und irgendwo zu vergessen wäre. Doch vielleicht habe ich dies mit dem Aussetzen von Pflanzen aus meinem Gebiet ins Freiland schon geahnt und vorweggenommen / dass die Beschäftigung mit Pflanzen und Gärten nur über sie hinwegführen kann. Dem Himmel / dem Boden zu.“[16]

 

[1] Franz Kafka, ‚Die Verwandlung‘, erster Satz.

[2] Vergil, ‚Georgica‘, Buch 4, Verse 281–558.

[3] Der Begriff wurde von Lady Raglan in ihrem Aufsatz „The ‚Green Man‘ in Church Architecture“ (in: ‚Folklore‘, 50. Jg., Nr. 1, März 1939, S. 45–57) geprägt. Im deutschen Sprachraum wird meist die Bezeichnung „Blattmaske“ verwendet.

[4] Vgl. dazu Kathleen Basford, ‚The Green Man‘, Ipswich 1978, S. 9–22.

[5] Félix Guattari, ‚Die drei Ökologien‘, 4. Aufl., Wien 2019, S. 12.

[6] Gilles Deleuze / Félix Guattari, ‚Rhizom‘, Berlin 1977, S. 26.

[7] Weinbergers Standpunkt kommt hier Positionen des spekulativen Realismus nahe, die eine vom Menschen unabhängige, autonome Realität annehmen, die auch ohne Bezug zum menschlichen Denken und grundlos existiert. Aber auch das Denken Heideggers, der „nie ‚über‘ etwas [denkt]; er denkt etwas“, wie es Hannah Arendt formuliert hat (Hannah Arendt, „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“, in: Günther Neske / Emil Klettering [Hg.], ‚Antwort. Martin Heidegger im Gespräch‘, Tübingen 1988), ist nicht fern.

[8] Lois Weinberger lebte 1978/79, zur Zeit der Entstehung des Werks, noch in Tirol auf dem Land und begann erst ab 1980, seine Werke in Ausstellungen zu zeigen.

[9] In dem Sinn wertend, dass „Wildnis“ ausschließlich von der Kultur aus denkbar ist.

[10] So stammt der Begriff „Paradies“ etwa vom awestischen ‚pairi-da?za‘ ab, was direkt übersetzt „eingezäunter Bereich“ bedeutete und in der Antike persische Königsgärten bezeichnete.

[11] Auch ‚Stein mit Federn‘ ist als buchstäblich „fliegender Stein“ durchaus politisch gemeint.

[12] Lateinisch für „geschlossener“ oder „verschlossener Garten“.

[13] Das öffentliche Interesse an den jeweiligen Anteilen am Werk führt sie schließlich dazu, die auch weiterhin gemeinsam ausgetragenen intellektuellen Prozesse dahinter nicht mehr unter einer geteilten Autorschaft zu subsumieren, um einem Ablenken von den wesentlichen Inhalten der Arbeiten entgegenzuwirken.

[14] „Immer wieder geht zuweilen das Denken in den gleichen Schriften oder bei eigenen Versuchen auf dem Pfad, den der Feldweg durch die Flur zieht. […] Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt.“ Martin Heidegger, ‚Der Feldweg‘, Frankfurt am Main 1989, S. 13, 17.

[15] „Denken wir für eine Weile an einen Schwarzwaldhof, den vor zwei Jahrhunderten noch bäuerliches Wohnen baute. Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet. Es hat den Hof an die windgeschützte Berglehne gegen Mittag zwischen die Matten in die Nähe der Quelle gestellt. Es hat ihm das weit ausladende Schindeldach gegeben, das in geeigneter Schräge die Schneelasten trägt und tief herabreichend die Stuben gegen die Stürme der langen Winternächte schützt. Es hat den Herrgottswinkel hinter dem gemeinsamen Tisch nicht vergessen, es hat die geheiligten Plätze für Kindbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg, in die Stuben eingeräumt und so den verschiedenen Lebensaltern unter einem Dach das Gepräge ihres Ganges durch die Zeit vorgezeichnet. Ein Handwerk, das selber dem Wohnen entsprungen, seine Geräte und Gerüste noch als Dinge braucht, hat den Hof gebaut.“ Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, in: ders., ‚Gesamtausgabe‘, Bd. 7, Frankfurt am Main 2000, S. 162.

[16] Lois Weinberger, Wien 1996, in: ‚Lois & Franziska Weinberger‘ (Ausst.-Kat., Kunstverein Hannover; Villa Merkel, Esslingen), Hannover 2003, S. 85.

 

Katalog zur Ausstellung:

Lois Weinberger – Basics

Herausgegeben von Stella Rollig und Severin Dünser

Mit Texten von Pierre Bal-Blanc, Catherine David, Severin Dünser, Hans Ulrich Obrist, Stella Rollig und Philippe Van Cauteren

Grafikdesign von Astrid Seme, Wien

Deutsch/Englisch

Hardcover mit Papierwechsel, 24 × 31 cm, 232 Seiten, 256 Abbildungen

Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 2021

ISBN 978-3-903327-22-1 

 

Rundgang durch die Ausstellung (Video)